
Manchmal ist der Unterschied zwischen „schon wieder“ und „zum Glück“ denkbar klein. So auch gestern, als bekannt wurde, dass Polizisten in Elmshorn in Schleswig-Holstein einen 17-jährigen Deutsch-Türken festnehmen konnten, der aus islamistischen Motiven plante, einen Weihnachtsmarkt mit einem Lkw anzugreifen. „Zum Glück“, weil eine schwere Straftat im Vorfeld verhindert werden konnte. Und: „Schon wieder“, weil der Fall sich in eine Reihe von islamistischen Gefährdungsszenarien einreiht, die Deutschlands innere Sicherheit bedrohen.
„Schon wieder“ kann sich aber auch auf die Tatsache beziehen, dass der entscheidende Hinweis, der die Tat verhindern konnte, von einem ausländischen Geheimdienst kam. Damit ist Elmshorn der nächste Fall, der den Eindruck erweckt, dass der deutsche Verfassungsschutz, das „Frühwarnsystem“, das Informationen über extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen sammeln und auswerten soll, seiner Aufgabe nicht nachkommt. Vielmehr ist die Behörde von Thomas Haldenwang (CDU) extrem auf Hinweise aus dem Ausland angewiesen, um Terroranschläge zu verhindern.
NIUS hat neben Elmshorn neun weitere Fälle gesammelt:
Im Juni kommt es zu einem Großeinsatz von Polizei, Feuerwehr und Spezialkräften in Köln. Ein Tunesier soll im Stadtteil Chorweiler eine Bio-Bombe aus Rizin, einem hochgefährlichen biologischen Gift, gebaut haben. Sief Allah H. und seine Ehefrau, eine Konvertitin, werden verhaftet. Schon in der Vergangenheit soll der Tunesier Sympathien für den „Islamischen Staat“ (IS) gezeigt und Ausreisebestrebungen nach Syrien gezeigt haben. Den entscheidenden Hinweis auf Sief Allah H. und seine Frau liefert der amerikanische Geheimdienst CIA.
Der angeklagte Sief Allah H. hält sich einen Aktenordner vor das Gesicht. Er soll eine Biobombe gebaut haben.
Der Fall fällt in die Endphase der Präsidentschaft Hans-Georg Maaßens im Verfassungsschutz. Gut vier Monate später, im November 2018, übernahm Haldenwang den Posten.
Deutschen und dänischen Staatsschützern gelingt es, einen islamistischen Terroranschlag in Europa zu verhindern. In Dessau sowie in Dänemark werden drei syrische Brüder im Alter von 33, 36 und 40 Jahren festgenommen, die IS-Propaganda und kiloweise Chemikalien sowie Schwarzpulver und Zündschnüre horten. Der Vorwurf gegen die Syrer lautet: Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Die Ermittler kommen dabei den Brüdern nur durch einen Hinweis eines ausländischen Geheimdienstes auf die Spur.
Am 15. September 2021, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, kommt es in Hagen wegen einer „islamistisch motivierten Bedrohungslage“ zu einem Großeinsatz der Polizei. Ein 16-jähriger Syrer wird festgenommen, dieser kam im Frühjahr 2015 im Rahmen einer Familienzusammenführung nach Deutschland. Der Jugendliche soll geplant haben, eine Synagoge mit einer Bombe anzugreifen, für die er sich Bauanleitungen in einem Online-Messenger holte. 2022 wird er zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, weil er eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet hat. Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten Hinweise von einem ausländischen Geheimdienst erhalten.
Zwei Beamte sichern die Synagoge in Hagen.
Ein 18-Jähriger wird an einem Autobahnrastplatz in Passau verhaftet. Ihm wird zur Last gelegt, einen Anschlag in Frankfurt mit einer Schusswaffe geplant zu haben. Der marokkanischstämmige Deutsche aus dem Taunus soll sich zudem im Internet nach Sprengsätzen und Fernzündungsmechanismen erkundigt haben, ein Langmesser in der Garage gelagert und Speichermedien mit Darstellungen von IS-Flaggen sowie „ideologisch besetzten Bildern von Kämpfen und Hinrichtungen“ besessen haben. Ein ausländischer Geheimdienst gibt den Hinweis.
Spezialeinheiten stürmen in Duisburg die Wohnung des 29-jährigen Tarik S., der verdächtigt wird, einen islamistisch motivierten Anschlag auf pro-israelische Demonstrationen vorbereitet zu haben. Tarik S. ist Behörden bestens bekannt: 2013 soll er sich in der nordrhein-westfälischen Dschihadistenszene radikalisiert haben und anschließend mit weiteren Männern nach Syrien gereist sein, wo er sich dem IS anschloss, eine Frau heiratete und ein Kind zeugte. Nach seiner Rückkehr wird Tarik S. festgenommen und inhaftiert, unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Dann kommt er frei – anscheinend alles andere als deradikalisiert. Der Hinweis auf den Verdächtigen und dessen Anschlagspläne im Herbst 2023 kommt von einem ausländischen Geheimdienst.
Ermittler nehmen einen 17-Jährigen fest, der im Verdacht steht, gemeinsam mit einem Komplizen einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen-Opladen anzugreifen und möglichst viele „Ungläubige“ zu töten. Der Tschetschene soll in einer Chatgruppe ein Video mit Erkennungszeichen des IS gepostet haben, in dem er das Attentat ankündigte. Später wird er zu einer Jugendstrafe von vier Jahren wegen Verabredung zum Mord und Störung des öffentlichen Friedens verurteilt. Der entscheidende Hinweis kommt von einem ausländischen Geheimdienst.
Ein Tschetschene soll den Weihnachtsmarkt in Leverkusen-Opladen ins Visier genommen haben.
Im November wird in Niedersachsen ein Iraker festgenommen, der einen Terroranschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Hannover geplant haben soll, womöglich mit einem Lkw. Der Mann, der in Sachsen-Anhalt gewohnt und in Niedersachsen gearbeitet hat, ist Behörden als islamistischer Gefährder bekannt; sein Asylantrag war zuvor abgelehnt worden. Der 20-Jährige wird in Helmstedt in Gewahrsam genommen, nachdem ein ausländischer Geheimdienst Hinweise gegeben hatte.
Mehrere mutmaßliche Islamisten planen in Europa Terroranschläge an Silvester. Ein potentielles Ziel: der Kölner Dom. Die Verdächtigen sollen Tadschiken sein, die in Österreich, Spanien und Deutschland leben und angeblich Verbindungen zur Terrororganisation ISPK haben. Der Kölner Dom wird daraufhin abgesperrt, Personenkontrollen durchgeführt. Im Saarland verhaften Ermittler einen 30 Jahre alten Mann, der nach Österreich überstellt werden soll. Auch im Vorfeld der Silvesternacht kommen die entscheidenden Hinweise von ausländischen Geheimdiensten.
Polizeifahrzeuge sichern den Kölner Dom an Silvester 2023. Die Terrororganisation ISPK soll am Kölner Wahrzeichen Terroranschläge geplant haben.
Die Abhängigkeit von ausländischen Geheimdienstinformationen ist kein rein deutsches Phänomen. Auch in Österreich helfen ausländische Sicherheitsbehörden, islamistischen Terror zu verhindern. Im August wird ein 19-jähriger Islamist festgenommen, der Sprengstoff und Stichwaffen einsetzen und damit möglichst viele Menschen bei einem Konzert von Taylor Swift töten wollte. Der Tatverdächtige hatte die österreichische Staatsangehörigkeit, aber familiäre Wurzeln in Nordmazedonien. Der US-Geheimdienst CIA bestätigt später, den entscheidenden Hinweis zur Verhinderung des möglichen Anschlags gegeben zu haben.
Die Antiterroreinheit GSG9 rückt nach Bernau aus, um einen Libyer festzunehmen, der nach Erkenntnissen der Behörden einen Anschlag auf die israelische Botschaft in Berlin geplant haben soll. Laut Bundesanwaltschaft wird Omar A. vorgeworfen, IS-Anhänger zu sein und einen „öffentlichkeitswirksamen Anschlag“ auf die Botschaft verüben zu wollen. Der Hinweis auf den Verdächtigen kommt von einem ausländischen Geheimdienst.
Polizisten bringen den in Bernau bei Berlin festgenommenen Omar A., der einen Anschlag mit Schusswaffen auf die israelische Botschaft in Berlin geplant haben soll, zur Haftvorführung.
Insgesamt kam es laut BKA in Deutschland zu 13 vollendeten islamistischen Anschlägen mit mehr als 20 Toten und fast 120 Verletzten. Der erste ereignete sich 2011, als der Kosovo-Albaner Arid U. am Terminal 2 des Frankfurter Flughafens zwei US-Soldaten erschoss und zwei weitere verletzte. Der schwerste Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik war der Lkw-Anschlag von Anis Amri auf einen Berliner Weihnachtsmarkt 2016 mit 13 Toten. Der jüngste Anschlag war die Messerattacke durch Issa Al Hasan auf ein Stadtfest in Solingen im August, bei der drei Menschen getötet wurden.
Insgesamt beurteilen Experten die islamistische Gefährdungslage nach den Anschlägen von Mannheim und Solingen als erhöht. Jüngst wurde in Hof in Bayern ein 27-jähriger Syrer festgenommen, der geplant haben soll, möglichst viele Soldaten mit Macheten zu töten; in Linz betrat ein Islamist mit Machete eine Polizeistation und bedrohte Beamte.
Der Angeklagte Adem Yilmazim im Düsseldorfer Oberlandesgericht. Er gilt als einer der Rädelsführer der sogenannten Sauerland-Gruppe.
Die Abhängigkeit der deutschen Ermittlungsbehörden von US-amerikanischen (aber auch israelischen und britischen Geheimdiensten) ist dabei kein Problem, das ausschließlich Haldenwang anzulasten wäre. Der Spiegel berichtete 2022, dass bei jedem zweiten Anschlagsplan entscheidende Hinweise aus dem Ausland kämen. 2006 warnte ein nordafrikanischer Geheimdienst vor einem Kofferbomber; 2007 informierte die CIA über Anschlagsabsichten der sogenannten Sauerlandgruppe.
Ein Grund für die Angewiesenheit auf Informationen aus dem Ausland ist die fehlende Möglichkeit deutscher Sicherheitsbehörden, Kommunikation in Messengerdiensten wie Telegram zu überwachen. CDU-Politiker Christoph de Vries warnte unlängst: „Es bestätigt sich der Eindruck, dass die Sicherheit unseres Landes bei der Vereitelung islamistischer Terroranschläge vielfach in den Händen ausländischer Partnerdienste liegt.“ Der Geheimdienstexperte Gerhard Conrad fordert „erweiterte Möglichkeiten der Datengewinnung und -auswertung“ und eine bessere Verzahnung der Behörden im In- und Ausland.
Der CDU-Politiker Christoph de Vries prangert schon seit geraumer Zeit die Abhängigkeit deutscher Sicherheitsbehörden von ausländischen Geheimdiensten an.
Die Abwehr islamistischen Terrors bleibt in Deutschland vorerst eine Aufgabe, die massiv auf die Kooperation mit ausländischen Geheimdiensten angewiesen ist. Kritiker mahnen an, dass Haldenwangs Behörde vor allem den Kampf gegen Rechts in den Vordergrund stelle, während sie im Bereich islamistischer Gefährdung wenig aktiv sei.
Im Bereich des Rechtsextremismus verzeichneten Sicherheitsbehörden einen Erfolg: Mitglieder einer Gruppe namens „Sächsische Separatisten“ wurden festgenommen. Die Männer sollen Waffen gehortet und Vorbereitungen für den „Tag X“ getroffen haben – auch hier führte ein ausländischer Geheimdienst zum entscheidenden Hinweis.
Auch bei NIUS: Die Akte Sulaiman A.: „Alles deutet auf einen IS-inspirierten Anschlag hin“