
Es gibt Dinge, die lassen einen schon daran zweifeln, dass die Bundesrepublik als Rechtsstaat noch die Kurve kriegt. Die Fälle häufen sich, in denen unsere Justiz sich der Lächerlichkeit preisgibt und sozusagen selbst delegitimiert.
Jens K. ist ein völlig unbescholtener Angestellter aus Niedersachsen, politisch niemals irgendwie in Erscheinung getreten, schon gar nicht negativ. Vor ein paar Jahren hat er auf Facebook zufällig eine Frau kennengelernt, die – wie er – in Dresden geboren und aufgewachsen ist: Elena, Tochter eines ehemaligen russischen Besatzungsoffiziers.
Sie und Jens K. teilen außerdem die Liebe zum Schach. Regelmäßig spielen sie online auf der bekannten Plattform https://lichess.org/ miteinander. Persönlich haben sie sich noch nie getroffen, das ist auch gar nicht geplant. Sie schreiben sich im Internet und spielen Schach. Als kleine Aufmerksamkeit hat Jens K. vor ein paar Monaten ein kleines Andenken an Dresden nach Moskau geschickt: Memorabilia für Touristen und eine Holzkassette mit einem Reiseschachspiel. Nur eine Geste unter Brieffreunden.
Zum Dank schickt Elena nun – unaufgefordert, versteht sich – ein kleines Geschenkpaket zurück. Das kommt am 11. März 2025 in Deutschland an, Jens K. erfährt davon überhaupt erst durch die Benachrichtigung des Zolls in Hannover. Unser Schachfreund fährt also dorthin und packt das Paket aus. Elena hat ihrerseits ein paar kleine Aufmerksamkeiten hineingetan: eine Tafel Schokolade, einen Beutel Tee – und eine Matroschka aus Holz.
Und da fängt das Drama an.
Denn mittlerweile hat die EU wegen des Ukraine-Kriegs 17 (in Worten: siebzehn) Sanktionspakete gegen Russland verabschiedet. Bekanntlich hat keines davon dazu geführt, dass auch nur eine Patrone weniger verschossen wurde. Darauf reagieren die Eurokraten in Brüssel, wie sie immer reagieren, wenn sich eine politische Maßnahme als unwirksam erweist: Sie wollen noch mehr von demselben, und so ist ein 18. Sanktionspaket in Vorbereitung.
Unter den Bannstrahl der EU fallen schon jetzt auch alle Einfuhren von Holz aus Russland. Damit soll verhindert werden, dass staatliche russische Unternehmen mit dem Holzhandel Geld verdienen. Das ist der Sinn des Einfuhrverbots. Allerdings gibt es Beamte (und, wie wir gleich sehen werden, auch Staatsanwälte), die zwischen dem Buchstaben und dem Geist eines Gesetzes nicht unterscheiden. Ob sie das nicht können oder nur nicht wollen, sei dahingestellt.
Eine Matroschka ist eine kleine Puppe, in der sich eine kleinere Puppe befindet, in der sich wiederum eine noch kleinere Puppe befindet. Elenas Matroschka an Jens K. ist, horribile dictu, aus Holz. Nun ist Elena Nachhilfelehrerin in Moskau und kein staatlicher Holzkonzern, und die Puppe ist ein Geschenk und keine Handelsware. Aber Holz aus Russland darf nicht nach Deutschland eingeführt werden, sagt der Zoll in Hannover: Die Matroschka wird beschlagnahmt.
Das findet Jens K. nachvollziehbarerweise zwar ärgerlich, aber er findet sich auch damit ab. Immerhin darf er die Tafel Schokolade und den Teebeutel behalten. Damit fährt er nach Hause. Vorgang erledigt.
Denkste.
Am 27. Mai 2025 flattert unserem gebeutelten Schachspieler ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Hannover ins Haus. Darin wird er darüber informiert, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen einer „Straftat nach dem Außenwirtschaftsgesetz“ eingeleitet wurde:
„Gegen Sie besteht der Verdacht, dass Sie Waren aus Russland entgegen § 18 Abs. 1 Nr. 1a) AWG in Verbindung mit Art. 3i Abs. 1 VO (EU) Nr. 833/2014 nach Deutschland eingeführt haben.“ Das wäre dann eine Straftat. Das dafür vorgesehene Strafmaß ist durchaus beachtlich, es liegt bei drei Monaten bis fünf Jahren Gefängnis. Zur Erinnerung:
Es geht um eine geschenkte Holzpuppe.
Die dienstbeflissenen Staatsanwälte in Hannover haben dann noch einen Fragenkatalog mitgeschickt. Jens K. wird mit Fristsetzung aufgefordert, folgende Auskünfte zu erteilen:
Es geht immer noch um eine geschenkte Holzpuppe.
Jens K., man kann das verstehen, ist verärgert. Welcher normale Mensch beschäftigt sich denn mit den EU-Sanktionen gegen Russland? Und welcher normale Mensch kommt auf den Gedanken, dass es verboten sein könnte, eine kleine bemalte Holzpuppe von Moskau nach Hannover zu schicken – eine einzige, wohlgemerkt, als persönliches Geschenk? Abgesehen davon: Ist ein persönliches Geschenk überhaupt eine „Ware“ im Sinne der Sanktionen?
Jens K. ist aber nicht nur verärgert. Angesichts des im Gesetz genannten Strafrahmens ist er auch verunsichert. Also beißt er in den sauren Apfel und konsultiert einen Rechtsanwalt. Auf eigene Kosten, versteht sich.
Und immer noch geht es um eine geschenkte Holzpuppe.
Nach Rücksprache mit seinem Rechtsbeistand beantwortet Jens K. den Fragebogen der Staatsanwaltschaft: vollständig, wahrheitsgemäß und ausführlich. Dann wartet er.
Zwei Wochen später kommt ein neuer Brief von der Staatsanwaltschaft: Das Ermittlungsverfahren wird mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Das bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft nach Prüfung der Beweis- und Rechtslage zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ein hinreichender Tatverdacht im Sinne einer überwiegenden Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht besteht. Möglicherweise hätte man unter Einschaltung des gesunden Menschenverstands zu diesem Ergebnis allerdings auch schon vor Einleitung des Ermittlungsverfahrens kommen können.
Die Korrespondenz des zuständigen Staatsanwalts wurde von einer Justizhauptsekretärin beglaubigt. Wer sich mit den Arbeitsabläufen bei Gericht etwas auskennt, der weiß, dass höchstwahrscheinlich auch mindestens noch eine dritte Kraft mit dem Vorgang befasst war – zum Beispiel irgendein bemitleidenswerter Rechtsreferendar.
Und es geht um eine geschenkte Holzpuppe.
Deutschlands Justiz klagt wegen chronischer Überlastung. Bei den Staatsanwaltschaften in den Bundesländern stapeln sich die Aktenberge: Mehr als 930.000 Fälle sind nach Angaben des Deutschen Richterbunds aktuell offen. Weil Strafverfahren nicht mit der gesetzlich gebotenen Schnelligkeit bearbeitet werden konnten, haben deutsche Gerichte im Jahr 2024 bundesweit mehr als 60 dringend Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen müssen.
Keine Pointe.