
Liberty dies by inches, sagt man im Englischen. In Deutschland bildet sich seit der Corona-Zeit schrittweise ein neues Rechtsregime aus, das erkennbar dazu geeignet und bestimmt ist, die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes – die das Bundesverfassungsgericht wiederholt zur tragenden Säule des demokratischen Verfassungsstaates erklärt hat – systematisch leerlaufen zu lassen und den öffentlichen Gebrauch der Meinungsfreiheit durch Bürger für diese zu einem unkalkulierbaren Lebensrisiko zu machen. Während einige dieser Maßnahmen, wie etwa die Einführung des sogenannten Phänomenbereichs „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ im April 2021, schnell öffentliches Aufsehen erregte, blieben andere Neuerungen, so vor allem die zeitgleiche Einführung einer besonders strafbaren „Politikerbeleidigung“ (§ 188 Abs. 1 StGB n.F.), vor dem Auftreten erster spektakulärer Fälle öffentlich zunächst fast unbemerkt.
Den zahlreichen Verschärfungen des Meinungsstrafrechts wie der Verwaltungspraxis und den vor allem seit Anfang 2024 gehäuften, zugleich zunächst diffusen Ankündigungen von künftig noch weiter angestrebten Freiheitsbeschränkungen und Strafandrohungen ist dabei stets gemeinsam, dass sie die für die Demokratie schlechterdings konstituierende Bedeutung der Meinungsfreiheit grundlegend verkennen und öffentliche, zumal politische Äußerungen durch Bürger als eine Art Unsitte ansehen, die seitens der Staatsgewalt künftig nur noch in engen Grenzen hingenommen werden wird.
Dieser neue „Phänomenbereich“ wurde im April 2021 bundesweit in allen Verfassungsschutzbehörden eingeführt, zunächst um Aktivitäten von Coronamaßnahmen- und Impfskeptikern als verfassungsfeindlich hinstellen zu können, obwohl sich diese weder rechts- noch linksextremistisch, noch als islamistisch darstellten. Das zirkelschlüssige Adjektiv „verfassungsschutzrelevant“ (verfassungsschutzrelevant ist offenbar, womit der Verfassungsschutz sich faktisch eben befasst) soll dabei offenbar im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „erlaubte Kritik am Regierungshandeln“ von „systematischer Verunglimpfung“ der Institutionen des Staates abgrenzen, die keine „Bemühung um Augenmaß“ erkennen lasse und zu dem Eindruck führe, die „demokratische Grundordnung selbst“ sei „untauglich“ – so jedenfalls die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion. Diese vermeintliche Einschränkung ist aber eben nicht nur zirkelschlüssig, sondern auch grundlegend verfassungswidrig. Denn sie geht erkennbar davon aus, dass
(1) die Regierung und der ihr unterstellte Verfassungsschutz selbst entscheiden könnten, bis zu welchem Grad Kritik an ihr überhaupt erlaubt ist, und
(2) dass Kritik an der vermeintlichen Untauglichkeit der „Grundordnung“ (was immer das auch ist), oder Kritik, die bei Dritten den Eindruck auslösen könnte, nicht nur eine Einzelmaßnahme, sondern auch die „Grundordnung“ sei irgendwie kritikwürdig, von vornherein verboten ist. Keine dieser Annahmen ist irgendwie mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die „üble Nachrede“ bzw. Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens, wenn sie aus Beweggründen heraus begangen werden, „die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen“, wurden schon immer mit einer erhöhten Strafandrohung bedroht, dies jedoch nur, wenn die Tat geeignet ist, „sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren“. Im April 2021 wurde dann auch die einfache Beleidigung in die erhöhte Strafandrohung miteinbezogen, unter denselben Voraussetzungen. Bekannt wurde die Rechtsnorm aus § 188 StGB (die bislang ein völliges Schattendasein führte) der breiten Öffentlichkeit nun durch spektakuläre Einzelfälle.
Für den Fall des pensionierten Bundeswehrsoldaten Stefan Niehoff, gegen den die Staatsanwaltschaft Bamberg wegen Verbreitung des den Bundeswirtschaftsminister Habeck betreffenden „Schwachkopf-Memes“ eine Hausdurchsuchung veranlasst hatte, kam es jedoch – zunächst – schon auf den neuen Tatbestand der Politikerbeleidigung an, da die Hausdurchsuchung ausschließlich mit diesem Tatvorwurf begründet worden war. Inzwischen verfolgt die Staatsanwaltschaft diesen Vorwurf offenbar nicht weiter, sondern hat offenbar stattdessen einen Strafbefehl wegen „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB) beantragt, weil der Ex-Soldat offenbar in einem anderen Tweet die seinerzeitige Aussage der ZDF-Unterhalterin Sarah Bosetti aus dem Jahr 2021 über die „Ungeimpften“ als „Blinddarm“ der Gesellschaft mit einer historischen Aussage eines Nationalsozialisten aus dem Jahr 1940 über die Juden als „vereiterte[r] Blinddarm am Körper Europas“ parallelisiert hatte.
Dass dies natürlich weder der Verherrlichung noch der Verharmlosung der NS-Verbrechen dient, sondern die Unmenschlichkeit der Agitation gegen Impfskeptiker im öffentlich-rechtlichen Fernsehen während der Corona-Zeit anklagen soll, liegt dabei auf der Hand. Und wie dem auch sei: Die seinerzeitige Hausdurchsuchung war klar rechtswidrig. Erstens war der Tatbestand der „Politikerbeleidigung“, trotz Veränderung der Rechtslage, offensichtlich nicht erfüllt, weil nicht zu erkennen ist, inwiefern der Schwachkopf-Tweet geeignet gewesen sein soll, die Amtsführung des Bundeswirtschaftsministers gleich „erheblich“ zu „erschweren“. Es bliebe also allenfalls die einfache Beleidigung (§ 185 StGB) übrig; diese wäre aber ohne Strafantrag (der zum Zeitpunkt der Durchsuchung noch nicht vorgelegen haben soll) gar nicht verfolgbar gewesen (§ 194 Abs. 1 Satz 1 StGB). Selbst bei Vorliegen eines Strafantrages hätte eine Hausdurchsuchung wegen einfacher Beleidigung außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit gelegen, zumal bereits die Erfüllung des Tatbestandes mehr als zweifelhaft war. Und schließlich kam eine Hausdurchsuchung schon deswegen nicht in Betracht, weil ja die „Täterschaft“ nicht zweifelhaft war und der Mann seine Urheberschaft am Tweet niemals bestritten hatte. Welche „Beweise“ wären also aufzufinden und zu sichern gewesen?
In beiden Fällen, also Niehoff und Bendels, ging die ursprüngliche Denunziation von der Meldestelle „Hessen gegen Hass aus“, die beim hessischen Innenministerium angesiedelt ist und das bayerische Landeskriminalamt – das gewiss nichts Besseres zu tun hat – erst auf die Fälle aufmerksam gemacht hatte. Solche „Meldestellen“ lassen oft das Internet im Allgemeinen und soziale Medien im Besonderen mit Hilfe von „Künstlicher Intelligenz“ rund um die Uhr nach anfechtbaren Meinungsäußerungen durchsuchen. Diese Vorgehensweise bildet zwar keinen Fall der im Grundgesetz (Art. 5 Abs. 1 Satz 4) verbotenen Zensur, unter der nur behördliche Vorzensur von Veröffentlichungen zu verstehen ist.
Das Vorhaben war bereits 2022 gleich mit Beginn der schwarz-grünen Koalition beschlossen worden und passt zu Äußerungen der Ministerinnen Faeser und Paus jeweils auf Pressekonferenzen am 13. Februar 2024, sowie des damaligen Bundesverfassungsschutzpräsidenten Haldenwang in einem Artikel in der FAZ am 1. April 2024 (der aber offenbar dennoch ernstgemeint war), nach denen das Kriterium der Strafbarkeit bei der Bekämpfung oppositioneller Äußerungen künftig nicht mehr entscheidend sein dürfe – schließlich wüssten viele kritische Bürger inzwischen genau, was verboten und was erlaubt sei, und würden sich durch bewusste Beschränkung ihrer Äußerungen auf legale Inhalte der staatlichen Verfolgung entziehen, was man ihnen aber aus Gründen des Staatswohls nun nicht mehr durchgehen lassen werde.
Der Volksverhetzungsparagraph (§ 130 StGB) ist ebenfalls ein Beispiel für deutsches Sonderwegs-Strafrecht, das merkwürdigerweise – je weiter, jedenfalls nach der Selbstbeschreibung der deutschen Eliten, die Verwestlichung und „Fundamentalliberalisierung“ (Habermas) der Bundesrepublik voranschreitet – immer weiter verschärft wird. Ursprünglich war (seit 1872) die „Anreizung zum Klassenkampf“ verboten, worunter nur die Aufforderung zu Gewalttaten zu verstehen war. 1960 kam die Aufstachelung zum „Hass“ oder zu „Willkürmaßnahmen“ gegen „Teile der Bevölkerung“ hinzu; seit 1975 wurde insofern Freiheitsstrafe obligatorisch. Seit 1994 ist die Holocaustleugnung unter Strafe gestellt, seit 2005 auch die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung „der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft“, und seit 2022 sogar auch heutiger, gegenwärtiger Völkermorde, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Was in praktischer Hinsicht bedeutet, dass in Deutschland Amtsrichter, die keinerlei eigene Erkenntnisse über Geschehnisse zum Beispiel im Russland-Ukraine-Konflikt haben und auch kaum eine entsprechende Beweiserhebung durchführen könnten, gegenüber Bürgern, die sich über diese Dinge irgendwie geäußert haben, Entscheidungen treffen müssen, für die an sich der UN-Sicherheitsrat zuständig wäre, der sich aber nicht einig geworden ist.
Spätestens seit 1994 ist die Vorschrift zu einem Willkür- und Gummiparagraphen geworden, nicht nur, weil Historiker nicht mehr wissen, ob sie zum Beispiel die gute Organisation der Müllabfuhr oder das Schwimmbadwesen im Dritten Reich positiv erwähnen dürfen oder inwieweit es erlaubt ist, subjektive Handlungsmotive von Nationalsozialisten nachzuzeichnen, ohne in die Nähe der „Rechtfertigung“ zu kommen. Sondern auch, weil die schreiend ungerechte Anwendung der Vorschrift überall ins Auge fällt: Corona-Skeptiker, die Maßnahmen oder Äußerungen in der Corona-Zeit mit Maßnahmen oder Äußerungen aus dem Dritten Reich vergleichen (wie Stefan Niehoff), um auf gewisse, manchmal nicht zu leugnende Parallelen hinzuweisen, verharmlosen nach Ansicht der Staatsanwaltschaften regelmäßig die Gewalt- und Willkürherrschaft des Dritten Reiches; etablierte Politiker, die mehrmals täglich die AfD mit den historischen Nationalsozialisten gleichsetzen, tun dies aber nie, sondern wehren nur den Anfängen.
Nunmehr ist die Koalition bestrebt, im Sinne einer „lex Höcke“ bei einer zweimaligen Verurteilung wegen „Volksverhetzung“ pauschal das passive Wahlrecht abzuerkennen. Höcke hatte in einer Wahlkampfveranstaltung die angebliche SA-Losung „Alles für Deutschland“ gebraucht und in einer weiteren Wahlkampfveranstaltung dem Publikum geschildert, warum die Staatsanwaltschaft nun eigentlich gegen ihn ermittele – auch das soll dann schon „Volksverhetzung“ sein.
Aber auch der Tatbestand der Volksverhetzung selber soll ausweislich des Koalitionsvertrages schon wieder verschärft und erweitert werden. Diesmal sollen „Hass und Hetze“ – eine juristisch völlig inhaltlose Vokabel, die insbesondere von „Grünen“ in moralisierend-anklagender Weise Sachargumenten entgegengehalten zu werden pflegt, offenbar noch weitergehend unter Strafe gestellt werden. Noch alarmierender sind Bestrebungen im Koalitionsvertrag (S. 123), künftig die „gezielte Einflussnahme auf Wahlen“ – aber dann müssten ja alle politischen Parteien und alle Medien verboten werden, gemeint ist offenbar nur der Versuch der Einflussnahme durch die Bürger (!) – „sowie Desinformation und Fake News“ staatlich zu bekämpfen. Da die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen „durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt“ sei – stimmt, sehr wohl aber durch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) –, soll eine „staatsferne Medienaufsicht“ (?) „auf Basis klarer gesetzlicher Vorgaben“ (also Gummiparagraphen wie eben § 130 StGB) „gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können“.
Dies alles zeigt, dass die bereits im Februar durch den US-Vizepräsidenten J.D. Vance auf der Münchener Wehrkundetagung geäußerte Kritik an den Entwicklungen in Deutschland nicht neben der Sache lag. Nach dem spektakulären Film aus der Serie „60 Minutes“ im US-Fernsehen über Göttinger Staatsanwälte, die sich über die Beschlagnahme von Endgeräten als schuldunabhängige Administrativbestrafung für obrigkeitskritische Bürger beölen, und nun dem Artikel „The threat to free speech in Germany“ im Economist stellt man sich nicht nur in den USA zunehmend die Frage, ob und wie lange Deutschland eigentlich noch eine freiheitliche Demokratie ist.