
Wenn Friedrich Merz am 6. Mai aller Voraussicht nach zum Kanzler gewählt wird, stellt sich vor allem eine Frage: Was passiert bei der Migration? Kommt es zur Zurückweisung „aller Versuche“ der „illegalen Einreise an den Grenzen“, wie es Merz im Wahlkampf versprochen hatte? Die jüngsten Äußerungen des CDU-Chefs und seines Generalsekretärs Carsten Linnemann und die Versprechungen im Koalitionsvertrag machen zumindest klar, dass man an den Forderungen des Fünf-Punkte-Plans nicht mehr festhalten will.
„Wir werden ab dem Tag 1 unsere Staatsgrenzen noch besser kontrollieren“, hatte Friedrich Merz am Montag auf dem CDU-Parteitag erklärt, ganz so, als würden sie schon jetzt gut kontrolliert werden. „Es wird Zurückweisungen in größerem Umfang an unseren europäischen Binnengrenzen geben“, ergänzte er. Mit weichen Formulierungen wie „in größerem Umfang“ tritt Merz hinter die Forderungen seines Fünf-Punkte-Plans aus dem Januar 2025 zurück. Dennoch soll es nun „mit der Übernahme der Regierungsverantwortung“ einen „Politikwechsel“ geben.
Friedrich Merz’ Wahlkampfversprechen haben deutlich an Striktheit verloren.
Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann war sich am Montag sicher: „Es gibt Themen wie zum Beispiel Migration, wo ich glaube, dass wenn wir selbst allein mit uns selbst verhandelt hätten, nichts anderes drinstehen würde.“ Damit gab auch Linnemann zu, den Forderungskatalog seiner Partei nach dem Doppelmord in Aschaffenburg nicht weiter verfolgen zu wollen. Denn die Versprechungen des Fünf-Punkte-Plans von Friedrich Merz wurden im Koalitionspapier deutlich aufgeweicht.
Als der Deutsche Bundestag am 29. Januar mit 348 Ja- zu 344 Nein-Stimmen den Fünf-Punkte-Plan der Union annahm, stand das Land Kopf. Durch die Zustimmung der AfD hatte sich die Union eine Mehrheit verschafft, um endlich eine Migrationswende einzuleiten – so jedenfalls die Theorie. Die linken Parteien im Bundestag tobten. Merz habe das „Tor zur Hölle“ geöffnet, schimpfte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Auch auf der Straße wurde es ungemütlich für die Union. Es kam zu massiven Übergriffen auf Parteimitglieder. Auf den anschließenden „Demos gegen Rechts“ wurde Merz mitunter in die Rolle eines Faschismus-Ermöglichers gerückt.
Doch danach passierte … nichts. Weder setzte die Bundesregierung um, was der Bundestag forderte. Noch pochten die Abgeordneten der CDU/CSU auf eine sofortige Umsetzung. Schon in den ersten Tagen nach der hitzig geführten Debatte im Parlament zeichnete sich ab, dass eine Wende in der Migrationspolitik nie wirklich zur Disposition stand. Eine Torpedierung der Sondierungs- und Koalitionsgespräche zwischen Union und SPD sollte tunlichst vermieden werden.
Ursprünglich sah der Fünf-Punkte-Plan folgende Dinge vor:
Einige Punkte wurden im Koalitionsvertrag aufgenommen, einige deutlich aufgeweicht, andere sind gar nicht mehr zu finden. Von der Zurückweisung aller illegalen Einwanderer ist beispielsweise nicht mehr die Rede. Nun soll die „irreguläre Migration“ lediglich „reduziert“ werden. „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen. Wir wollen alle rechtsstaatlichen Maßnahmen ergreifen, um die irreguläre Migration zu reduzieren“, versprechen Union und SPD.
Dabei hatte Friedrich Merz noch am 23. Januar den Wählern fest versprochen, die Grenzen für alle illegalen Migranten zu schließen: „Ich werde im Fall meiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen.“
Auch Punkt 3 des Fünf-Punkte-Plans taucht nicht mehr im Koalitionspapier auf. „Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, dürfen nicht mehr auf freiem Fuß sein. Sie müssen unmittelbar in Haft genommen werden“, hatte der Bundestag durch die Annahme des Entschließungsantrags der Union verlangt. Dies würde die sofortige Inhaftierung von rund 42.300 abgelehnten Asylbewerbern bedeuten, die über keine Duldung verfügen (Stand: Dezember 2024).
Die Verhaftung aller illegalen Migranten ohne Duldung steht inzwischen jedoch nicht mehr zur Debatte. „Abgelehnte Asylbewerber müssen unser Land wieder verlassen“, verlangen Union und SPD. Die „Zahl der Rückführungen“ müsse gesteigert werden. Das jedoch hatte auch bereits die Vorgängerregierung versprochen. Dazu soll nun die Bundespolizei „Kompetenz erhalten, für ausreisepflichtige Ausländer vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam zu beantragen, um ihre Abschiebung sicherzustellen“. Die Möglichkeit eines dauerhaften Ausreisearrestes soll lediglich „für ausreisepflichtige Gefährder und Täter schwerer Straftaten nach Haftverbüßung“ geschaffen werden.
Auch in anderen Fragen der Migration kann von einem wirklichen Politikwechsel kaum die Rede sein. Laut Koalitionspapier soll das Kontingent bei der Westbalkanregelung von 50.000 auf 25.000 heruntergesetzt werden. Damit würde lediglich die Hochstufung der Ampel-Koalition aus dem Juni 2024 rückgängig gemacht. Auch weiterhin könnten Personen aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und dem Kosovo ohne Nachweis einer Berufsqualifikation nach Deutschland gelangen.
Zudem soll für zwei Jahre der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ausgesetzt werden – das sind jedoch ohnehin nur rund zehn Prozent der 120.000 Familiennachzügler des vergangenen Jahres. Das Auswärtige Amt dürfte auch in Zukunft fleißig Visa in der ganzen Welt verteilen. In diesem Jahr haben von Januar bis März bereits rund 28.000 Personen eine solche Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, durch die Personen bereits nach 5 Jahren den deutschen Pass erhalten, bleibt hingegen gänzlich unangetastet, was das Staatsvolk in seiner Zusammensetzung grundlegend verändern wird. Lediglich die Turbo-Einbürgerung ab drei Jahren soll abgeschafft werden.
Die Ergebnisse des Koalitionsvertrags bieten also meist oberflächliche und unkonkrete Formulierungen, ohne eine wirkliche Wende in der Migrationspolitik in Aussicht zu stellen. Die Masseneinwanderung nach Deutschland wird sich fortsetzen, nur eben ein bisschen langsamer. Nun aber soll der neue Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) das schaffen, was in den Vor-Ampel-Jahren schon seinem Parteikollegen Horst Seehofer nicht gelang: Migranten sollen schon an der Grenze zurückgewiesen werden.
Der designierte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt
Dass der durch den Bundestag beschlossene Fünf-Punkte-Plan nicht durchgesetzt wird, hatte sich frühzeitig angedeutet. Auf NIUS-Anfrage hatte bereits die amtierende Bundesregierung zu verstehen gegeben, dass sie den Willen des Parlaments weiter ignoriert – was sie juristisch darf, denn der am 29. Januar beschlossene Antrag der Union war rechtlich nicht bindend. Brisant ist die Nicht-Beachtung einer Bundestagsmehrheit trotzdem, denn schließlich ist das Parlament vom Volk gewählt.
Auch aus der Union hörte man seit dem 29. Januar kaum mehr etwas zum Fünf-Punkte-Plan. Es gab keine Pressemitteilungen zum Bundestagsbeschluss. Kein Abgeordneter pochte öffentlich auf die sofortige Umsetzung der Forderungen. Durch die am Montag getätigten Aussagen von Carsten Linnemann und Friedrich Merz ist nun endgültig bestätigt: Die Union will den 5-Punkte-Plan überhaupt nicht mehr umsetzen.
Die Einwanderung nach Deutschland soll in großem Stil fortgesetzt werden, nun aber unter dem Label der legalen Migration. „Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute nicht“, hatte das CDU-Urgestein, der verstorbene Wolfgang Schäuble, noch im Dezember 2006 verlautbart. 2010 bekräftigte CSU-Politiker Horst Seehofer: „Deutschland ist kein Zuwanderungsland“. Er forderte „Qualifizierung statt Zuwanderung“.
Bei Friedrich Merz klang das am Montag anders: „Deutschland ist ein Einwanderungsland“, erklärte der CDU-Chef. „Wir sind ein friedliches Land. Wir sind ein offenes Land. Wer regulär zu uns kommt und mit uns leben will, ist uns willkommen.“
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