
Zum dritten Mal musste Bundeskanzler Olaf Scholz – als einer von insgesamt fünf Zeugen – vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) der Hamburgischen Bürgerschaft zum Cum-Ex-Skandal aussagen. Wieder wies er den Verdacht der politischen Einflussnahme energisch zurück. Und wieder taten sich erstaunliche Erinnerungslücken auf. NIUS war dabei.
Da Scholz bereits bei seinen ersten beiden Zeugenvernehmungen wenig zur Wahrheitsfindung beitrug und sich immer wieder auf Erinnerungslücken berief, hielt sich die Spannung im Saal ob der Erwartung neuer Erkenntnisse in Grenzen. Immerhin konnte er im März vergangenen Jahres aufatmen, als die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg in der Steueraffäre keinen Anfangsverdacht wegen uneidlicher Falschaussage sah. Im März und Juli 2020 hatte er sich im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss noch an Inhalte erinnern können, die ihm im April 2021 auf wundersame Weise allesamt wieder entfallen waren.
Die Begründung der Generalstaatsanwaltschaft war ein echtes Schmankerl: Man sei zu dem Ergebnis gelangt, „dass sich auch aus den betreffenden Protokollen kein konkretes Erinnerungsvermögen des Betroffenen Scholz herleiten lasse“. Dessen in indirekter Rede wiedergegebene Äußerungen seien „objektiv mehrdeutig“. Und: Außerdem sei nicht auszuschließen, dass sich die Erinnerungslücken, auf die sich Scholz im PUA berufen hat, erst nach seinen Aussagen im Finanzausschuss verfestigt hätten.
Ein Zeuge, der nicht viel zur Wahrheitsfindung beiträgt.
Erinnerungslücken, die sich verfestigen, wenn es nützlich ist – das nennt man dann wohl Scholzheimer. „Ich habe keine eigene Erinnerung“, „Ich habe keine detaillierte Erinnerung“ in diversen Variationen, pro Sitzung gern 20-mal. Wie oft würde sein Gedächtnis diesmal aussetzen? Es sollte um fast 30 Fälle bei der mittlerweile privatisierten HSH Nordbank, jetzt Hamburg Commercial Bank (HCOB) gehen, die noch vor dem Fall Warburg öffentlich wurden. Die HSH Nordbank hatte sich Kapitalertragssteuern erstatten lassen, die zuvor gar nicht gezahlt worden waren. Im Vergleich zum Fall Warburg, wo Spektakuläres passierte (die Finanzbehörde verzichtete auf die Rückzahlung von vielen Millionen Euro, im Sparkassen-Schließfach des SPD-Politikers Johannes Kahrs, der der Bank „behilflich“ sein wollte, wurden mehr als 200.000 Euro in bar gefunden), ist der Fall HSH Nordbank ein kleiner Fisch.
Ausgerechnet in Wahlkampfzeiten deswegen noch einmal vor dem PUA in die Bütt zu müssen, schien Scholz lästig zu sein. Immer wieder meinte er, mit der Rückzahlung von rund 126 Millionen Euro an den Fiskus sei für ihn der Fall erledigt gewesen, die Finanzbehörde habe die Fälle „gut aufgearbeitet“. Im Übrigen sei er damit beschäftigt gewesen, nach Wegen zu suchen, die HSH Nordbank zu retten, es sei um Risiken in Milliardenhöhe gegangen – zum Schaden der Steuerzahler in Hamburg und Schleswig-Holstein. Mindestens ein halbes Dutzend Mal führte Scholz dieses Argument ins Feld.
Olaf Scholz kehrt nach Hamburg zurück – nur für diesen Termin.
In seiner Eingangsbemerkung sagte Scholz, Steuerhinterziehung und Steuerbetrug seien „keine Bagatelldelikte, sondern schwere Straftaten“ und außerdem unsolidarisch: „Mein ganzes politisches Leben habe ich mich für ein gerechtes Steuersystem eingesetzt.“ Im Übrigen sei der Sachverhalt im Fall Warburg „umfassend aufgeklärt“ (was er mitnichten ist, es gibt nur einen Zwischenbericht und die Ermittlungen dauern an). Da sich nicht nur Ex-Bundeskanzlerin Merkel in Zynismus üben kann (ihre Autobiografie heißt bekanntlich „Freiheit“), dankte Scholz am Ende dem PUA „für die intensive Aufklärungsarbeit“ bisher.
Er selbst trug allerdings auch diesmal nichts zur Klärung der Sachverhalte bei. Zwar war er in der Zeit der Cum-Ex-Skandale Erster Bürgermeister von Hamburg – und der heutige, Peter Tschentscher, seinerzeit Finanzsenator –, dennoch vermittelt Scholz den Eindruck, er habe mit den ganzen fraglichen Vorgängen irgendwie so gar nichts zu tun gehabt. Wann immer es konkret wurde, taten sich wieder die bekannten Erinnerungslücken auf.
Ob bei der Amtsübergabe 2011 die Cum-Ex-Fälle ein Thema gewesen seien? „Weiß es nicht mehr wirklich.“ Gab es jour fixe zum Thema? „Kann nicht sagen, wann und wo.“ „Kann ich Ihnen nicht sagen.“ „Darüber kann ich keine Aussage machen.“ „Wann ich das erfahren habe, kann ich nicht mehr rekonstruieren.“ „Weitere konkrete Erinnerungen kann ich hier nicht wiedergeben.“ „Ich habe daran keinerlei Erinnerung.“ „Ich kann Ihnen das nicht aus der Erinnerung sagen.“ Mitarbeiter hätten Quellen zusammengestellt, „um meine Erinnerung zu stützen.“ „Kann zu diesem Schreiben nichts sagen.“
Hat Peter Tschentscher mit ihm über ein mögliches Bußgeld gesprochen (das nie verhängt wurde)? „Kann mich daran nicht erinnern, kann dazu keinen Beitrag leisten.“ „Kann ich aus eigener Erinnerung nicht bestätigen.“ Ob der Finanzexperte Gerhard Schick, der als Sachverständiger fungierte, ihn auf die HSH Nordbank angesprochen habe? „Daran erinnere ich mich nicht.“ Aber: „Ein netter Mann!“ Daran erinnert er sich noch.
Wurde die Frage einer strafrechtlichen Aufarbeitung der Affäre diskutiert? „Daran erinnere ich mich überhaupt nicht.“ „Ich kann dazu nichts beitragen, will mich auch nicht ins Spekulieren begeben.“ Einsprüche gegen die Steuerbescheide seien zurückgenommen worden: „Erinnere ich mich nicht.“ Irgendwann hörten die Beobachter im Saal auf, solche Aussagen zu zählen. Nicht einmal die 275 Millionen Euro Steuerschaden schienen den Kanzler zu jucken, weil Peanuts angesichts anderer Risiken in Milliardenhöhe. Die hätten ihn „wirklich umgetrieben.“
Nicht jeder nimmt Scholz seine vorgeblichen Erinnerungslücken ab.
Nach 90 Minuten ist es Scholz, der eine Frage stellt: „Kann ich hier irgendwie zum Kaffee kommen?“ Das Heißgetränk wird gereicht, aber auch die Koffein-Infusion hilft dem Erinnerungsvermögen des Bundeskanzlers nicht auf die Sprünge. Nein, er habe keine eigenen Erinnerungen an Herrn Olearius. Nein, er habe keine persönlichen Postfächer mehr in Hamburg, von denen er wüsste. Und so etwas wie einen USB-Stick mit Kalenderdaten, die dem Untersuchungsausschuss weiterhelfen könnten, besäße er nicht, Mails würde eher das Büro bearbeiten, er arbeite mit Akten.
Als der Vorsitzende des Ausschusses die Sitzung beendet und schöne Feiertage wünscht, sagt Scholz noch: „Da passiert noch was bis dahin“, auf die Vertrauensfrage am 16. Dezember anspielend, und grinst schlumpfig. Vielleicht meint er ja doch was anderes.
Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung, heißt es immer. Für Bundeskanzler Scholz gilt analog: Das Geheimnis der Erlösung von juristischen Ermittlungen ist der Verlust des Erinnerungsvermögens. Aber gut, dass wir mal über Cum-Ex geredet haben.
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