
Vielleicht ist nicht jede Wahlumfrage ist eine Meldung wert. Vor allem, wenn sich die Verhältnisse um nur um halben Prozentpunkt verschieben. Aber eine der jüngeren Umfragen von Insa hatte es in sich: Danach lagen die Linken mit elf Prozent knapp vor den Grünen. Das ist durchaus bemerkenswert. Die Linken schienen Anfang 2024 tot: in den Umfragen unter fünf Prozent und mit der Abspaltung des Bündnis Sahra Wagenknecht haben sie nicht wenige Funktionäre verloren. Die Grünen wiederum waren 2021 erfolgsversprechend auf dem Weg ins Kanzleramt. Es brauchte das große Potenzial zur Unfähigkeit von Annalena Baerbock, um die Nummer zu verbaerbocken.
Jetzt stehen die Linken auf Augenhöhe mit den Grünen da. Deren Träume vom Kanzleramt wirken heute so irreal wie die real existierende “Wirtschaftspolitik”, die ihr Minister Robert Habeck hinterlassen hat. Mit einer dysfunktionalen und unbezahlbaren Energieversorgung, einem Anwachsen der Steuer- und Abgabenlast oder einem Auswuchern der Bürokratie. Die Grünen sind in den Umfragen wieder auf die Rolle der Klientel- und Spartenpartei zurückgefallen, die sie eigentlich immer waren – auch als 25 Prozent der Deutschen sich vorstellen konnten, sie zu wählen.
Zu den Gründen gehört der personelle Wechsel. Die Linken haben sich nach dem Bruch mit den Wagenknecht-Leuten auch von ihrer Vorsitzenden Janine Wissler getrennt. Die Hessin hat mit ihrer miesepetrig vorgetragenen arroganten Inkompetenz die Partei nach unten gezogen wie ein Bündel aus Mühlsteinen. Ines Schwerdtner und Jan van Aken haben übernommen und mit Heidi Reichinnek als Spitzenkandidatin und Fraktionsvorsitzende ein Talent entdeckt, das in der Zielgruppe hervorragend ankommt.
Die Grünen haben keinen Personalwechsel vollzogen. Zumindest keinen freiwilligen. Hätten die Grünen nur fünf Prozent geholt, wären aber in der Regierung geblieben, dann wären Habeck und Baerbock vermutlich heute noch Minister. Und so? Im Fraktionsvorstand? Die gleichen Leute. Im Parteivorstand? Die gleichen. In der parlamentarischen Geschäftsführung? Ebenso. Selbst im stellvertretenden Fraktionsvorstand hat es nur eine neue Personalie gegeben: Misbah Khan. Die 35-Jährige fällt in Rheinland-Pfalz vor allem dadurch auf, nicht aufzufallen. Mehr langweilige Linientreue als die dreifache Quotenfrau geht gar nicht. Im Vergleich zu den Grünen hat das SED-Politbüro in seinem Untergang eine große Bereitschaft gezeigt, sich personell zu erneuern.
Der nächste Grund für den Aufstieg der Linken auf Kosten der Grünen ist die inhaltliche Positionierung. Die Grünen werden im Wesentlichen als Ein-Themen-Partei wahrgenommen. Doch egal, wie sehr befreundete Medien es auch versuchen: Dieses eine Thema, der Klimawandel zieht derzeit nicht. Wobei sich in dem Zusammenhang die Weisheit des großen Stürmers Jürgen Wegmann bewahrheitet: “Zuerst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu.” Wenn die Grünen im Bundestag über die große Dürre reden wollen, regnet es in Berlin. Wenn das Gesundheitsministerium die tödliche Hitzegefahr mit dem Klimawandel in Verbindung bringen will, sinken die Temperaturen im Juni unter 20 Grad Celsius.
Unter Wissler haben die Linken versucht, grüner als die Grünen zu sein: Klimaschutz und woker Quatsch. Unter van Aken, Schwerdtner und Reichinnek haben sie sich auf traditionelle linke Themen besonnen: Mietpreise, Reichtumsverteilung oder Heizkosten. Dabei zeigen sie zwar keine Fachkompetenz. Etwa, wenn Reichinnek die Verstaatlichung der Bahn fordert, obwohl die bereits zu hundert Prozent staatlich ist. Doch gerade in der jungen Zielgruppe kommen die simplen und falschen Botschaften an. Dass die Bahn staatlich ist, wissen die Pisa-Versager selbst nicht – und es kümmert sie auch nicht. Und Bahn-Besitzer zu enteignen, das klingt so verdammt sexy.
Auf diese Weise haben die Linken den Grünen den Rang als Aggressive Leader in der linken Sparte abgelaufen. Wenn die Vorsitzende der grünen Nachwuchsorganisation, Jette Nietzard, im Netz mit einem Shirt auftritt, dessen Spruch besagt, dass alle Polizisten Dreckskerle seien, ruft das die Parteielite auf den Plan. Nahezu alle aus dem grünen Vorstand, die sonst nicht in den Medien vorkommen, sind öffentlich über sie hergefallen – also der gesamte grüne Vorstand. In der linken Partei würde Nietzard wie ein Fisch im Wasser schwimmen. Schwerdtner hat der grünen Berufsjugendlichen daher den Parteiwechsel öffentlich angeboten.
Reichinneks Auftritt auf dem sozialen Netzwerk Tiktok ist für alle befremdlich, die älter als 30 Jahre sind und in Zeiten zur Schule gegangen sind, als dort Lesen und Schreiben noch eine verpflichtende Qualifikation waren. Auf Tiktok dauern die Videos oft nur 15 Sekunden. Die Botschaften sind simpel, banal und mitunter Panne: Etwa, wenn sechs junge Damen zu einem Lied vom “F…enfreitag” tanzen, sich dann bücken und hinter ihnen die Linken-Fraktionsvorsitzende sitzt und den Zuschauern lächelnd zuprostet. Textzeile: “Lass die Männer glotzen, ich bin draußen mit den F…en.”
Bei den Jungen kommt das offensichtlich gut an. Laut Infratest Dimap waren die Linken mit 26 Prozent die stärkste Partei unter den Erstwählern, noch vor der AfD mit 19 Prozent. Die Grünen erreichten nur 11 Prozent. Im Vergleich zur Wahl von 2021 fielen die Grünen bei den Erstwählern um 12 Prozentpunkte, während die Linken um 18 Prozentpunkte zulegten. Analysen anderer Wahlen zeigen in eine ähnliche Richtung, wenn auch nicht ganz so deutlich.
Die Linken haben den Grünen die „Aggressive-Leaderschaft“ abgenommen. Früher galten sie als die Rebellen mit den langen Haaren, die ihr Ministeramt in Turnschuhen annahmen, und der Obrigkeit entgegenriefen, die seien mit Verlaub ein Ars…och. Jetzt sind sie mausgraue Apparatschiks, denen nur die Parteilinie als Qualifikation bleibt. Die sich an ihre Ämter klammern. Auch nach Wahlniederlagen. Gerade nach Wahlniederlagen. Während die Linken im Internet den “F…entanz” zelebrieren.
Die Grünen haben die Aggressive-Leaderschaft gegen eine staatstragende Attitüde eingetauscht. Sie sind jetzt die, die am heftigsten den Krieg und höhere Steuern fordern. Sie sind die, die Bürger hundertfach verklagen, wenn die sich unvorsichtig ausdrücken. Und sie sind die, die sich über den eigenen Nachwuchs echauffieren, wenn der daneben liegt. Dieser Wechsel ins seriöse Fach ist zu einem gewissen Punkt durchaus sinnvoll. Schauspieler kennen das. Wenn sie für den Jugendlichen Liebhaber zu alt sind, dann müssen sie irgendwann den Tragischen Helden spielen. Oder sie sind weg vom Fenster.
Die Grünen führten 2021 die Staatskanzlei einer der wichtigsten Bundesländer und klopften an die Tür zum Kanzleramt an. Da wäre ein “F…enfreitag” nicht mehr gegangen. Und ein Ministerpräsident ist auch der oberste Dienstherr der Polizisten. Wenn er seine Untergebenen alle für Dreckskerle hält, müsste er sich hinterfragen. Also ist es auch taktisch richtig, sich hinter die Polizisten zu stellen. Davon abgesehen, dass es inhaltlich richtig ist, moralisch, logisch oder gesellschaftlich – aber darum geht es in diesem Text nicht.
In diesem Text geht es um die strategische Ausrichtung. Da haben die Grünen den Wechsel vom Jugendlichen Liebhaber zum Tragischen Helden versucht, als diese Rolle ihnen eine große Zukunft auf der Politbühne versprach. Dumm ist halt für die Grünen, dass sie den Wechsel verpatzt haben. Erst Baerbock mit der schlechtesten Kanzlerkandidatur seit Rudolf Scharping, und jetzt droht der Fall von Baden-Württemberg. Landesvater Winfried Kretschmann tritt nicht mehr an, ihm soll der Berliner Funktionär Cem Özdemir folgen.
In Umfragen liegt die CDU rund zehn Prozentpunkte vor den Grünen. In einzelnen hat die AfD die Partei schon überrundet, die aktuell die Staatskanzlei hält. Und nun holen auch noch die Linken auf. Mutmaßlich eher auf Kosten der Grünen, als auf Kosten von AfD und CDU. Die Wahl ist im Frühjahr 2026. Sie wird zum ersten großen Test nach der Bundestagswahl: Wie hat sich die schwarz-rote Regierung bewährt? Wie schneiden die Oppositionsparteien ab? Stand jetzt hält sich die AfD stabil, während die Linke den Grünen die linke Sparte abnimmt.
Staatstragend funktioniert für die Grünen nicht so richtig. Der Rollenwechsel ist geplatzt. Doch Schauspieler wissen ebenfalls: Wenn es als Tragischer Held nichts wird, bleibt einem immer noch die Rolle des lustigen Alten. Man stelle sich zum Beispiel vor, dass die gescheiterte Baerbock nun als Reichinnek-Kopie punkten will. Praktischerweise muss das keiner. Denn genau das tut der „Schinken der Hoffnung“ tatsächlich. Und wo kann frau sich als obszön, niveaulos, intellektuell eindimensional, gewollt lustig und massiv unlustig inszenieren? Ein Favoritensieg: Bei Carolin Kebekus in der ARD.
In der Show spielen die Heldinnen der feministischen Außenpolitik “Wahrheit oder Pflicht”. Ob Baerbock einen Tampon von AfD-Chefin Alice Weidel annehmen oder lieber “einfach laufen lassen” würde. Statt einer Antwort lässt sich die Diplomatin ein Klebetattoo verpassen. Quasi als eine Art Heidi Reichinnek bei Temu bestellt. Falls die Grünen auf diesem Weg weitergehen wollen, hier noch ein Service-Hinweis. Der Text des Liedes lautet: “Lass die Männer glotzen, ich bin draußen mit den F…en.”