
Nach dem Terroranschlag von Solingen, 2024 von einem Syrer verübt, dessen Abschiebung versäumt wurde, kündigte die Bundesregierung Maßnahmen an, darunter Leistungskürzungen auf null für Dublin-Fälle bis zur Überstellung ins Ersteinreiseland für maximal zwei Wochen. Daraus wurde nichts – das Innenministerium selbst gab den Ländern sogar Hinweise, wie sich die Maßnahme unterlaufen lässt.
Bei dem islamistischen Terroranschlag am 23. August 2024, des ersten Tags des Stadtfestes „Festival der Vielfalt“ zum 650-Jahre-Jubiläum der Stadt Solingen, ermordete ein Syrer drei Menschen und verwundete acht weitere, davon vier lebensgefährlich. Der Attentäter Issa Al H. hatte Verbindungen zum Islamischen Staat (IS), der die Verantwortung für den Terroranschlag übernahm.
Sechs Tage später kündigten der damalige Justizminister Marco Buschmann (FDP), Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Anja Hajduk, Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium (Grüne), ein „umfassendes Sicherheitspaket“ zur Asyl- und Sicherheitspolitik an. Faeser sprach von „weitreichenden Maßnahmen“, die die Ampel-Regierung treffen wolle: Verschärfung des Waffenrechts, Messerverbote, verstärkte Abschiebungen. Leistungen sollten gekürzt, die Dublin-Rückführungen verstärkt werden. Wer Heimatreisen trotz seines Asylstatus antritt, dem sollte der Schutzstatus aberkannt werden. Man werde Abschiebungen stärker forcieren und irreguläre Migration intensiver bekämpfen.
Besonders heikel: Der Terrorist hatte schon im Jahr 2023 aus Deutschland abgeschoben werden sollen, und zwar auf Grundlage der sogenannten Dublin-Verordnung. Laut dem Dublin-Abkommen (gültig seit 1997) müssen Flüchtlinge in der Regel in dem EU-Land einen Asylantrag stellen, in dem sie erstmals die Europäische Union betreten haben. Es soll immer nur ein EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig sein und vermieden werden, dass in mehreren EU-Staaten Asylanträge gestellt werden.
Für den Asylantrag von Issa Al H. wäre demnach Bulgarien zuständig gewesen. Aber erst im Juni 2023 suchte die Bielefelder Ausländerbehörde den Syrer auf, obwohl seit Februar klar war, dass er kein Bleiberecht hatte. Sie traf ihn dort nicht an, weil er laut Josefine Paul, Fluchtministerin von NRW, seine Flüchtlingsunterkunft in Paderborn verlassen hatte. Später sei er zurückgekehrt, die Unterkunft habe allerdings versäumt, dies der Behörde zu melden. Die zuständige Ausländerbehörde versäumte außerdem, einen Rückführungsflug für al H. nach Bulgarien anzumelden. Nach der gescheiterten Überstellung im Juni wurden keine weiteren Versuche unternommen, die dafür vorgesehene sechsmonatige Frist im August 2023 verstrich ungenutzt. Deutschland wurde formal zuständig und Issa al H. lebte am Tag des Anschlags als anerkannter Bürgerkriegsflüchtling in einer Unterkunft in Solingen.
Paul geriet in die Kritik, denn das Bundesamt selber sagt, dass es nicht zuständig sei für die Rückführung und ihre Umstände: „Der ausländerrechtliche Vollzug obliegt allein den Bundesländern.“ Dann kam auch noch heraus, dass sie sich seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2022 nur ein einziges Mal persönlich mit dem Präsidenten des für Abschiebungen in andere EU-Länder wichtigen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ausgetauscht hatte, beim BAMF in Nürnberg war sie nie. Offenbar interessierte sich die Fluchtministerin überhaupt nicht für das Thema Abschiebungen und Dublin-Überstellungen – bis zum Anschlag von Solingen, als es unvermeidbar wurde.
Fühlt sich für Abschiebungen nicht zuständig: Josefine Paul, Fluchtministerin in NRW.
In der Pressekonferenz nach dem Terroranschlag von Solingen kündigte Nancy Faeser an, die Zahl der Dublin-Rückführungen zu steigern: „Wer ohne zwingenden Grund wie zum Beispiel die Beerdigung naher Angehörige in sein Heimatland zurückreist, dem soll der Status als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter aberkannt werden.“ Überdies sollten Geflüchteten die staatlichen Leistungen gestrichen werden können, sofern sie auch tatsächlich die Möglichkeit zur Ausreise haben, und nur noch maximal zwei Wochen verminderte „Überbrückungsleistungen“ bis zur Ausreise erhalten: Sachleistungen, kein Bargeld.
Faeser: „Bulgarien hatte erklärt, dass sie ihn wieder aufnehmen, das ist der Zeitpunkt, wo wir Leistung kürzen wollen, und zwar auf gar nicht, sondern nur noch auf Rückreise.“ Diese Regelung der Reduzierung auf null sei ein Vorgriff auf GEAS (Gemeinsames Europäisches Asylsystem). „In GEAS ist ausdrücklich geregelt, dass wenn ein Dublin-Fall in ein anderes Land reist, dass dort Leistungen entfallen.“ Bundesjustizminister Marco Buschmann erklärte kurz darauf im Bundestag, dass für „anerkannte Dublin-Fälle die Transferleistungen auf null, bis auf das Rückführticket in das zuständige Land“, reduziert werden.
Hajduk, Buschmann, Faeser: die Öffentlichkeit getäuscht.
Jetzt stellt sich heraus: Diese „Reduzierung auf null“, um den Betreffenden zur „selbstinitiierten Ausreise“ innerhalb von zwei Wochen zu bewegen, fand bis heute kaum statt, und eine bundesweite statistische Erfassung, wie oft die neue Regelung bislang angewandt wurde, gar nicht, wie das ARD-Hauptstadtstudio nach einer Anfrage bei Bund und Ländern und Auswertung interner Dokumente herausfand. Selbst aus Sicht des Bundesinnenministeriums sei nicht eindeutig klar, was die Neuregelung in der Praxis bedeutet, heißt es:„In dem Schreiben von Anfang Februar, adressiert an die Hamburger Innenbehörde, wird ‚eine von mehreren möglichen Auslegungen‘ skizziert. Dabei wird deutlich, dass auch das Innenministerium anerkennt, dass wegen des ‚komplexen Zusammenwirkens der Mitgliedstaaten im Überstellungsprozess‘ eine Ausreise für Dublin-Flüchtlinge in der Regel keineswegs freiwillig und selbstständig innerhalb von zwei Wochen möglich ist.“ Genau dieser Eindruck war aber in der Gesetzesbegründung geweckt worden.
Es verhält sich sogar so, dass das Innenministerium eine Art rechtliche Anleitung gab, wie sich die gesetzliche Zwei-Wochen-Frist verlängern lässt, also die mit großem Tamtam angekündigte Maßnahme unterlaufen lässt: Den Ländern stehe es offen, Maßnahmen zu ergreifen, Betroffene länger als für zwei Wochen zu versorgen. „Die Versorgung erfolgt grundsätzlich nicht als Asylbewerberleistung.“ Darüber hinaus bleibe es den Behörden „unbenommen, eine Versorgung aus Gründen der Billigkeit oder auf Basis des Ordnungsrechts zu gewähren“.
Bedeutet in Klartext übersetzt: Alles läuft weiter wie gehabt, heißt nur nicht mehr „Asylbewerberleistung“. Entsprechend hat etwa Rheinland-Pfalz einen Umsetzungshinweis an die zuständigen Behörden verschickt. Wie nach bisheriger Rechtslage sei im Wege der verfassungskonformen Auslegung „ein vollständiger Leistungsausschluss von hilfsbedürftigen Personen zwingend zu vermeiden“. Ganz im Sinne der Sozialgerichtsurteile, die sich bei der Aufhebung von Leistungsausschlüssen meist auf europa- und verfassungsrechtliche Bedenken stützten.
Ist es überhaupt zu einem vollständigen Leistungsausschluss gekommen? Hier läuft es wie in der Zeit der Corona-Maßnahmen: Die nötigen Daten werden gar nicht erhoben, weil diese die Bevölkerung verunsichern könnten. Im ARD-Bericht heißt es: „Von der Bundesregierung heißt es, die Fälle würden ‚noch nicht bundesweit statistisch erhoben‘. Das habe man ändern wollen, daraus sei aber nichts mehr geworden. Und so ziehen sich auch viele der Bundesländer darauf zurück, dass sie nicht dazu verpflichtet sind, dies statistisch zu erfassen.“
Acht Länder hätten mitgeteilt, keine Daten zu Leistungsausschlüssen haben (Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Berlin, Brandenburg, Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen), vier Länder (Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen), dass es bislang keine Fälle eines vollständigen Leistungsentzugs gab. Hamburg meldete gerade mal 21 Fälle, nur in Hessen und Rheinland-Pfalz laufen Verfahren im niedrigen dreistelligen Bereich, Schleswig-Holstein will noch Zahlen nachliefern.
Die von der Bundesregierung angekündigte – und gesetzlich festgelegte – neue Regelung des Leistungsausschlusses für Dublin-Fälle wird also nicht umgesetzt. Eine weitere Lüge der Bundesregierung, um die Bevölkerung ruhigzustellen, indem man vorgibt, endlich etwas gegen illegale Migration zu unternehmen. Das Innenministerium von Nancy Faeser verweist darauf, dass die Länder das Asylbewerberleistungsgesetz „in eigener Angelegenheit“ ausführen, das war’s.
Das Bundesinnenministerium reicht die Zuständigkeit einfach an die Länder weiter.
Was die Abschiebungen der Dublin-Fälle selbst betrifft, hatte Nancy Faeser deren Umsetzbarkeit selbst vorsorglich infrage gestellt. Voraussetzung ist schließlich, dass das Ersteinreiseland die Menschen unter bestimmten Bedingungen zurücknimmt. Jedoch stimmen einige Länder der Rücknahme zwar zu, stellen aber in der Praxis unerfüllbare Bedingungen für die Rücknahme. Besonders krass ist der Fall Italien: Rom hatte für das Jahr 2024 mehr als 10.000 Personen Rücknahme-Zustimmungen erteilt, nahm jedoch nur drei Dublin-Fälle zurück.
Im Jahr 2024 stellte Deutschland etwa 36.000 Übernahme-Ersuche, ein Drittel davon wurde von den betroffenen Ländern abgelehnt. Die deutsche Praxis, auch Dublin-Fälle erst einmal ins Land zu lassen und dann, wenn überhaupt, viel zu spät zu versuchen, das Ersteinreiseland in die Pflicht zu nehmen, ist dramatisch gescheitert.
So wie die Leistungskürzungs-Ankündigung, deren Umsetzung offenbar von der Regierung selbst sabotiert wurde. Einmal mehr bleibt der Eindruck zurück, dass sich in der Asyl- und Migrationspolitik nichts ändern soll und situativ Versprechungen von einer Wende gemacht werden, an deren Einhaltung sich die Politik nicht gebunden fühlt. Das wird wohl auch für den Abschnitt zu den Themen Asyl und Migration im Arbeitspapier der zuständigen Verhandlungsgruppe von Union und SPD gelten.
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