
„Nicht der Islam ist das Problem“, so titelte der österreichische Standard 2015 mit einem Zitat Lamya Kaddors: Da war die Islamwissenschaftlerin und Grünen-Abgeordnete dazu befragt worden, was es für sie bedeute, dass 2013 gleich fünf ihrer ehemaligen Schüler in den Jihad gezogen waren. Sie hatte ihnen im Rahmen eines Pilotprojekts Islamkundeunterricht erteilt.
In dem Interview zeigt sich, was sich grundsätzlich durch Kaddors Äußerungen zieht: Bagatellisierung, Verharmlosung, Exkulpierung. Rebellion sei in der Pubertät schließlich normal, und da muslimische Jugendliche schlecht Neonazis werden könnten, hätten sie eben kaum ein anderes Feld, um ihrem jugendlichen Protest Ausdruck zu verleihen.
Und sie tut es schon wieder: Auf Berichte über einen schwulen Lehrer, der seit seinem Outing von Schülern gemobbt, beschimpft und bedroht wird, reagiert sie auf X mit der gewohnten Taktik. „Queerfeindlichkeit“ sei „kein Randphänomen, kein importierter ‚Kulturkonflikt‘“, sondern sei „tief verwurzelt in unserer Mehrheitsgesellschaft: in Glaubensgemeinschaften, auf Schulhöfen, in Parlamenten und Redaktionsstuben“. Besonders beunruhigend sei, „wie reflexartig in solchen Fällen muslimische Schüler*innen zum Hauptproblem erklärt“ würden. Diskriminierung sei ein strukturelles Problem.
Strukturelle Diskriminierung homosexueller Menschen in Deutschland? In „Parlamenten und Redaktionsstuben“? Eine absurde Einlassung. In Deutschland werden von höchster Stelle Progress-Pride-Flaggen vor Ministerien gehisst. Feindseligkeit gegenüber Homosexuellen müsste man im medialen Raum mit der Lupe suchen. Jedenfalls wäre es interessant, zu erfahren, welche Redaktionen sich hier laut Kaddor hervortäten. Freilich ist es ein geschickter Schachzug, von „Queerfeindlichkeit“ zu sprechen, um beispielsweise jegliche Kritik an Irrwegen der Translobby zu dem Phänomen hinzuzurechnen – obwohl sich dagegen gerade auch aus der homosexuellen Community durchaus Kritik regt. Jedenfalls werden hierzulande im Extremfall sogar Afghanen kurzerhand zu Homosexuellen erklärt, um ihre Einreise nach Deutschland zu rechtfertigen und zu ermöglichen. Homophobie sieht anders aus.
Aber dies entspricht der Methode Kaddor, und sie ist nicht die einzige, die so agiert: Das Problem wird der Gesamtgesellschaft zugeschanzt, Täter werden ihrer Verantwortung enthoben. Kaddor geriert sich als Protagonistin von Dialog und gegenseitigem Verständnis, tatsächlich bedeutet „Dialog“ nach ihrer Lesart jedoch lediglich, dass andere, nämlich die Nichtmuslime, Verständnis aufzubringen haben, für das, was Muslime tun – was immer sie auch tun mögen.
Dass Kinder und Jugendliche in dieser Hinsicht weniger Verantwortung für Fehlverhalten tragen als Erwachsene, ist selbstverständlich – umso unverständlicher jedoch, dass nicht Elternhaus und soziales Umfeld entsprechend kritisch in den Blick genommen werden, sondern die „Mehrheitsgesellschaft“ als Sündenbock herhalten soll. Würde es sich um rechtsextreme Ausfälle handeln, würde man sich schließlich auch fragen, welche Einstellungen den Kindern zuhause vermittelt werden.
Mit als „Expertin“ angemaßter Autorität leistet Kaddor weniger einen Beitrag zur Etablierung eines „aufgeklärten“ Islam, als dass sie den Islam er- und verklärt. Sie macht sich zur Komplizin, indem sie Muslime darin bestärkt, sich hinter einer Opferrolle zu verschanzen, und sich vor Verantwortung zu drücken. Abgrenzung als angeblich marginalisierte Gruppe verhindert die Förderung innerislamischer Debatten, die, wie der Fall in Berlin eindrücklich zeigt, überfällig sind: Anstatt sich schützend vor muslimische Schüler zu stellen, müssten gerade muslimische Erwachsene einschreiten und deutlich machen, dass ein solches Verhalten nicht hinnehmbar ist, und zwar ohne Wenn und Aber.
Dies aber geschieht nicht. Und da bereits Musliminnen aus dem akademischen und politischen Milieu, die „gemäßigt“ und „aufgeklärt“ auftreten, nicht dazu in der Lage oder willens sind, dies unmissverständlich klarzustellen, wäre es in hohem Maße naiv, zu glauben, eine solche selbstkritische Auseinandersetzung mit problematischen Aspekten der eigenen kulturellen und religiösen Prägung würde irgendwann einmal einsetzen – denn wer soll dies einfordern, wenn nicht jene Akteure, die sich als Vorreiter in Sachen Integration begreifen?
Im Gegenteil: Mit wachsendem Bevölkerungsanteil entfällt die Notwendigkeit zur Integration, und damit die Notwendigkeit, sich selbst zu hinterfragen. Die Vorgaben des Islam werden mit stets größerer Selbstverständlichkeit als Norm betrachtet werden, der sich andere unterzuordnen haben. Dass dies am Ende auch emanzipierten Musliminnen wie Kaddor schadet, macht die Blauäugigkeit, mit der sie an ihren irrigen Vorstellungen festhält, umso erstaunlicher.
Mittlerweile sollten genug Erweise vorliegen, die zeigen, dass es die Integration des Islam in eine plurale, christlich grundgelegte Werteordnung nicht befördert, ihn von Kritik und Infragestellung abzuschirmen. Wie sich diese reflexartige Rechtfertigung jeglicher Fehlentwicklungen und Fehlhaltungen überdies mit dem Anspruch verträgt, einen „aufgeklärten“ Islam vertreten zu wollen, bleibt Kaddors Geheimnis.
Muslime sind in vielen Kontexten und gerade auf Brennpunkt-Schulhöfen schon lange keine Minderheit mehr. Sie konsequent zu Opfern zu erklären, ist zum einen nicht angemessen, zum anderen ein Schlag ins Gesicht aller, die Opfer muslimischer Überlegenheits- und Herrschaftsansprüche werden – ob Homosexuelle, Frauen und Mädchen, die sich „unislamisch“ kleiden, Juden, oder auch deutsche Schüler, die, wo sie bereits in der Minderheit sind, nicht selten ebenfalls drangsaliert werden.
Wer tatsächlich einen integrierten Islam befürwortet, würde sich als Muslim zuallererst gegen solche Tendenzen und Phänomene wenden – es sind Menschen wie Lamya Kaddor, die Muslimen suggerieren, dass Selbstreflexion und Selbstkritik nicht notwendig seien. Diese Fähigkeiten aber sind grundlegender Teil des westlichen Selbstverständnisses.