Man darf nicht mal mehr einem Politiker „Unwahrheit“ vorwerfen: Der große Angriff auf die freie Rede im Bundestag

vor 2 Tagen

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Einst war Julia Klöckner die Herrscherin der Reben: Zwischen 1995 und 1996 amtierte die CDU-Politikerin als Deutsche Weinkönigin. Heute hat sie es bis zur Bundestagspräsidentin geschafft – und trägt den royalen Anspruch auch ins neue Amt. Den Bundestag führt sie, als wollte sie ihn in Orwells Wahrheitsministerium verwandeln.

Wenn Klöckner die Bundestagsdebatten leitet, wird „eingegriffen“. Aus ihrem autoritären Anspruch macht sie keinen Hehl, ließ sich sogar von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als wackere Kämpferin gegen die freie Rede im Parlament porträtieren. „Wir sind stilbildend im Parlament, positiv wie negativ“, so Klöckner gegenüber der FAZ. Die Abgeordneten stimmten den Ton für die Debatten auch im Netz oder am Stammtisch an: „Da nehme ich es in Kauf, wenn der ein oder andere genervt ist, wenn wir als Sitzungsleitung eingreifen, und der Meinung ist, wir seien zu streng.“

Schon kurz nach Beginn der Legislaturperiode gingen Videos von Klöckner viral, in denen sie Abgeordnete zurechtwies oder des Saales verwies. Den Linken-Politiker Marcel Bauer warf sie raus, weil er eine Baskenmütze trug. Auch Cansin Köktürk von der Linken musste den Plenarsaal verlassen, auf ihrem Shirt hatte der Schriftzug „Palestine“ geprangt.

Auch auf dem Weg ins Parlament möchte Klöckner die Kleidung der Parlamentarier unter Kontrolle bringen. Als die Grüne-Jugend-Vorsitzende Jette Nietzard sich unterwegs Richtung Bundestag mit „ACAB“-Pullover („All cops are bastards“) fotografierte, drohte Klöckner mit Entzug des Hausausweises. Als hingegen die Fraktionen von Grünen und Linken zur Debatte über „queerfeindliche Hasskriminalität“ in Regenbogenfarben gekleidet im Parlament erschienen, durften sie bleiben.

Die Grünen-Fraktion im Bundestag

Nicht nur bei der Kleidung gibt Klöckner Regeln vor. Auch die Sprache der Parlamentarier unterwirft die Bundestagspräsidentin ihrem strengen Regiment, freundlich flankiert von Medien, die ihr vermeintlich hartes Durchgreifen loben. Immer wieder offenbart sich dabei die Einseitigkeit, mit der Klöckner und ihre Präsidiumskollegen vorgehen.

So ruft der AfD-Politiker Joachim Bloch am 9. Juli „Bullshit“, nachdem SPD-Mann Tim Klüssendorf in seiner Rede ein AfD-Verbotsverfahren fordert. Klöckners Stellvertreterin Josephine Ortleb, Parteifreundin von Klüssendorf, will den Einwurf nicht unwidersprochen stehen lassen: „Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, noch ein Wort zur aktuellen Debatte. Der Abgeordnete Bloch aus der AfD-Fraktion – er ist jetzt nicht mehr da – hat das Wort ‚Bullshit‘ zugerufen. Das weise ich hier ganz klar als unparlamentarisch zurück und werde, wenn das noch mal vorkommt, konsequent durchgreifen.“

Bei Bild wird der Vorfall noch am selben Tag als „‚Bullshit‘-Attacke der AfD!“ bezeichnet: „Wieder vergreift sich die AfD im Ton! Wieder gibt es eine Ermahnung der Sitzungsleitung!“

Weniger entschlossen zeigt sich das Präsidium, als es um den Zwischenruf eines Grünen geht. Am 5. Juni kritisiert der AfD-Abgeordnete Otten die eben aus dem Amt geschiedene Außenministerin Annalena Baerbock scharf und polemisch, das linke Lager jault auf. „AfD-Bullshit-Bingo ist das!“, ruft Tarek Al-Wazir von den Grünen. Er erhält keine direkte Ermahnung im Plenum. Die Sitzung leitet auch diesmal ein Parteifreund: der Grüne Omid Nouripour.

Auch die Meinungs- und Redefreiheit, in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben, wird immer wieder vom Bundestagspräsidium angegriffen. So sollen die Parlamentarier nicht zum Ausdruck bringen dürfen, wenn sie die Aussage eines anderen Redners für unwahr halten.

Klöckner im Parlament

Am 8. Juli sagt Linken-Politiker Dietmar Bartsch in einer Rede: „Herr Klingbeil, Ihr Haushalt ist auf Unwahrheiten gebaut.“ Das bringt Klöckner auf den Plan: „Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn man anderer Meinung ist, bezichtigen wir uns hier nicht persönlich der Lüge.“ Lachen bei den Linken-Abgeordneten. Klöckner: „Das mag jetzt bei den Linken zur Erheiterung führen, aber das ist hier so die Regel.“

Kurz darauf spricht auch der AfD-Mann Kay Gottschalk von „finanzpolitischen Lügen“. Klöckner darauf entrüstet: „Ich weiß nicht, ob das ein kognitives Problem ganz rechts und ganz links hier im Haus ist: Wir haben hier festgehalten, dass wir uns nicht persönlich herabwürdigen als Lügner und uns nicht der Lüge bezichtigen. Sie können sich gerne inhaltlich auseinandersetzen. Wer jetzt noch einmal meine Sitzungsleitung infrage stellt und den anderen als Lügner bezeichnet, kassiert einen Ordnungsruf.“

Im Verlauf der Sitzung des 8. Juli geht der Streit um die Wahrheit weiter. Die Grünen-Abgeordnete Lisa Badum bezichtigt SPD-Mann Esra Limbacher der Lüge: „Sie haben leider in Ihrer Rede gerade gelogen“, und legt nach, er habe „die Unwahrheit gesagt“. SPD-Bundestagsvizepräsidentin Ortleb richtet sich nach Badums Rede ans Plenum: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist gut, wenn wir hier eine lebendige Debatte führen; aber ich würde Sie bitten, davon abzusehen, sich hier gegenseitig zu beschuldigen.“ Und ergänzt: „Und ich bitte Sie, hier eine an den Fakten orientierte Debatte zu führen.“

Wie soll ein Parlamentarier zum Ausdruck bringen, wenn er die Argumente der Gegenseite für absichtliche Irreführung hält? Wie soll er kritisieren, ohne zu beschuldigen? Eine entsprechende Anfrage konnte die Bundestagsfraktion nicht bis Redaktionsschluss beantworten. Doch der Schluss liegt nahe, dass scharfe Kritik generell nicht mehr erwünscht ist. Der Streit darum, was Wahrheit und was Unwahrheit ist – der Kern jeder kontroversen Debatte –, soll im Parlament nicht mehr offen ausgetragen werden.

Wie das Bundestagspräsidium vorgeht, um die Begriffe zu definieren, die unter die Bundestags-Zensur fallen, erfährt man in der FAZ. Dort heißt es im Klöckner-Porträt über das Bundestagspräsidium: „Die drei Frauen und die beiden Männer haben eine Chat-Gruppe, in der sie sich austauschen. Jede Sitzung wird in Präsidiumsrunden vor- und nachbesprochen. Welches Wort darf man noch unkommentiert lassen, warum greift man bei ‚Kartell‘ ein?“

„Kartell“ ist, wie so oft, ein Wort, das vor allem die AfD gerne verwendet. Die Partei ist die einzige, die im Präsidium nicht vertreten ist. Die anderen Parteien verweigerten dem AfD-Kandidaten Gerold Otten ihre Stimme. Nun kann die AfD nicht beeinflussen, wie das Präsidium vorgeht – wohl aber vom Podium aus ermahnt werden.

Am 10. Juli spricht Fabian Jacobi (AfD) vom „Kartell der herrschenden Parteien“. Klöckner belehrt nach der Rede: „Herr Kollege Jacobi, kurz zur Demokratietheorie. Wenn es Mehrheiten im Parlament gibt und auf diesem Weg Entscheidungen getroffen werden, dann ist das Demokratie und nicht ein Kartell herrschender Parteien. Das will ich hier noch mal festhalten.“

Der Fall zeigt, wie Klöckner ihr Amt missbraucht, um sich zum Richter über die Zulässigkeit von Meinungen aufzuschwingen. Kein Strafgesetzbuch, keine Verordnung listet das Wort „Parteienkartell“ als strafbare Äußerung. Den Abgeordneten werden Worte verboten, die keinen Straftatbestand darstellen. So wandelt sich die Keimzelle der Demokratie, das Parlament, in dem wie an keinem anderen Ort mit Worten über die Zukunft des Landes verhandelt wird, zu einer Stätte der Unfreiheit.

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