Die Überwindung der Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

vor etwa 2 Monaten

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Bildquelle: Tichys Einblick

Es ist schwer von der Hand zu wei­sen: Die Kultur des Westens steht in vielen Aspekten unter Beschuss von außen und zeigt zugleich innere Auflösungserscheinungen. Stichworte wie Wokeness, Identitätspolitik oder Postkolonialismus beschreiben das Phänomen hinreichend. Lassen Sie uns das Ganze hier in einer sehr grund­legenden, systemischen Dimension be­trachten: das Verhältnis von Differen­ziertheit und Integration.

Systemisch gesehen fördern Fülle und Sicherheit Differenzierung und Individualisierung – Mangel und Bedro­hung dagegen erzwingen Integration und Bildung größerer kohärenter Ein­heiten. Dies zeigt sich bereits auf sehr elementarer Ebene, etwa beim Schleim­pilz. In nährstoffreichen Gewässern leben die Zellen des Schleimpilzes als Einzeller. Wird die Nahrung knapp, integrieren sich die Zellen zu einem viel­zelligen Organismus mit Fuß, Stiel und Kopf, weil das Überleben in dieser Form effizienter zu organisieren ist. Stellt sich erneut Nahrungswohlstand ein, löst sich die Ordnung wieder auf und die nächste Generation zerfällt in Einzelzellen.

Die wichtigste Voraussetzung dieser jederzeitigen Integrationsfähigkeit in der Not ist, dass alle Zellen über einen identischen Satz an DNA verfügen: Jede Zelle enthält gewissermaßen ein identisches Bild des Ganzen und die Information, welchen Platz sie in diesem Ganzen einzunehmen hat. Und weil das so wichtig ist, gibt es zelluläre Repara­turmechanismen für Fehler in der DNA.

Dieses systemische Grundprinzip gilt auch für Gesellschaften: je höher die Integration, desto größer Effizienz und Schlagkraft. Einigkeit macht stark. Entsprechend streben Gesellschaften in Zeiten von Not und Bedrohung – oder eigenen Aggressionsabsichten – ein Höchstmaß an sozialer Integration an. Die Funktion der „sozialen DNA“ übernehmen dann Religionen respektive Ideologien.

Und auch für diese soziale DNA gibt es „Reparaturmechanismen“: Geheimpolizeien, die „Abweichler“ aufspüren und mehr oder weniger brutal auf Linie bringen, die Inquisition oder neuerdings auch Apps, die anzeigen, wie intensiv man sich mit der vorgegebenen Ideologie beschäftigt (etwa mit den Xi-Jinping-Gedanken in China).

Gleich dem beschriebenen Pilz gibt es auch für Gesellschaften in Abhängigkeit von den Umständen optimale Integrationsniveaus: In Zeiten von Wohlstand und Sicherheit kann man es lockerer nehmen, kann man Freiheit und Individualismus Raum geben. Das macht das Leben angenehmer, und bis zu einem gewissen Grad steigert es Kreativität und Produktivität der Gesellschaft. Gleichwohl muss sich die Gesellschaft natürlich Institutionen erhalten, die für eine Reproduktion und Weiterentwicklung der essenziellen Teile der sozialen DNA sorgen – idealerweise bestehend aus einem möglichst ganzheitlich-kohärenten Welt- und Menschenbild mit entsprechenden Werten und Normen, unterstützt durch passende Traditionen, Riten und Formen von Kunst und Kultur.

Wie steht es nun um diese „Leitkultur“ in den westlichen Gesellschaften? Nun, immer schon war die Geisteslandschaft des Westens fragmentiert in drei größere Teilkulturen mit einer gewissen Binnenkohärenz: das Christentum, die Geistes- und Sozialwissenschaften und die Naturwissenschaften. Schon in den 1950ern fiel das Ungute dieser Situation auf; man denke an den britischen Physiker und Schriftsteller C. P. Snow, der die Kluft zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften beklagte und die Vereinigung dieser „Zwei Kulturen“ in einer dritten herbeiwünschte. Eine nachhaltige Wirkung blieb aus. Immerhin wurde „Interdisziplinarität“ zur stehenden, aber meist unerfüllten Forderung. Aufspaltung und Differenzierung setzten sich fort.

Neue Hoffnung auf die „Einheit des Wissens“ – so der Titel eines Buchs des großen Evolutions- und Soziobiologen E.O. Wilson von 1998 – keimte mit Beginn der 1980er auf: Es wurde deutlich, dass sich die Grundprinzipien der Evolution nicht nur im Biologischen finden, sondern überall, wo sich komplexe Systeme entwickeln, auch im Bereich von Psyche, Gesellschaft und Kultur.

In Analogie zum „Gen“ popularisierte der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins den Begriff „Mem“. Immer mehr wurden Bezüge hergestellt zu Ausformungen der Systemtheorie: Selbstorganisation, nichtlineare Dynamik, Chaostheorie, fraktale Geometrie. Am 1984 gegründeten Santa Fe Institute in New Mexico führte man all dies unter dem Label „Komplexitätstheorie“ zusammen. Einige sehr gut geschriebene populärwissenschaftliche Bücher machten daraus geradezu eine kleine Modewelle – die fraktale Apfelmännchen-Figur geriet zum ikonischen T-Shirt-Aufdruck.

Ein Teil dieser Bücher wurde gefördert durch den amerikanischen Literaturagenten John Brockman, der zentrale Denker, Wissenschaftler und Kulturschaffende auf der Internetplattform edge.org zusammenführte – bis heute unter dem Rubrum „dritte Kultur“. Auch im deutschen Sprachraum feierten wichtige Wissenschaftler „Ein neues Weltbild durch die Chaosforschung“, so ein einschlägiger Buchtitel von 1993.

Zwar geht die Forschung weiter, aber das wichtige Anliegen einer Einigung der geistigen Welt des Westens ist aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden. Ein Grund dafür ist sicher, dass sich die praktischen Nutzanwendungen der Komplexitätstheorie in Grenzen halten. Gehirnprozesse, die Wetterentwicklung oder die Börsenkurse lassen sich auch mit ihrer Hilfe kaum besser vorausberechnen. Die Schallmauer der intrinsischen Unberechenbarkeit der auch zufallsbestimmten Evolution komplexer Systeme konnte nicht durchbrochen werden.

Seither geht alles nur noch in Richtung Differenzierung, und zwar auf allen Ebenen: immer mehr Internetcommunitys, Wissenschaftssubdisziplinen, Glaubensgemeinschaften, Geschlechter, Kunstrichtungen, Kleinparteien et cetera.

Relevante Mechanismen der Kohärenzsicherung, des Erhalts der sozialen DNA, kennen die westlichen Gesellschaften kaum mehr. Vor allem, weil auch die Bildungssysteme immer mehr zersplittern. In tiefster Ahnungslosigkeit wird dann die Not auch noch zur Tugend gemacht – nach dem Motto „Vielfalt macht uns stark“.

Wie lange kann das noch so weiterlaufen? Die den Westen herausfordernden Kulturen sind allesamt höher integriert. Fundamentalistisch orientierte islamische Staaten und Gemeinschaften sowieso, und zwar nicht nur auf religiöser, sondern zusätzlich noch auf verwandtschaftlicher Ebene (Clanstrukturen). Russland und China arbeiten intensiv an der ideologischen Gleichschaltung.

Vermehrter außenpolitischer Druck und schwindender Wohlstand werden die Integrationserfordernisse in den westlichen Gesellschaften enorm ansteigen lassen, was beim gegebenen Stand des Abbaus der sozialen DNA zu einer enormen Vermehrung innergesellschaftlicher Konflikte führen muss. Auf allen Ebenen Streit wird häufiger und unversöhnlicher: in den Familien, in den Betrieben, in der Regierung. Immer mehr kommunale Amtsträger werfen jetzt schon hin, und es droht das Abgleiten ins Chaos.

Um dies abzuwenden, plädieren konservative Eliten für eine Art Rückwärtsintegration in Form der Wiederaufrichtung traditioneller Werte, wobei das Christentum eine mehr oder weniger große Rolle spielen soll. Im neuen CDU-Programm fungiert das christliche Menschenbild als Kern der Leitkultur. Und auch von der Basis her werden immer wieder Trends gemeldet in Richtung einer Suche nach Halt und Zugehörigkeit durch Rückbesinnung auf traditionelle Werte. Ein Beispiel sind die „Tradwives“ in den sozialen Medien, Frauen, die sich an traditionellen Werten wie Ehe und Familie orientieren.

In Traditionen muss man allerdings von früh an hineinwachsen; das Chris­tentum in seiner aktuellen Form ist in vielen Punkten mit Vernunft, Alltags­erfahrung und Wissenschaft nicht ver­einbar. Die einzige Leitschiene bleibt der vernünftige Diskurs. Das Wegbre­chen der traditionellen Religionen hat eine fatale Lücke gerissen, sie kann nur von einer reifen Wissenschaft gefüllt werden, die in stärkerem Maße bereit ist, Weltbild­-Funktion zu übernehmen.

Der Bausatz für eine solche dritte Kul­tur liegt nach wie vor bereit. 2023 wurde in einem hochrangigen Wissenschafts­journal („PNAS“) von einer interdiszipli­nären Wissenschaftlergruppe noch ein­mal gezeigt, wie grundlegend das Prin­zip der Evolution – sehr verkürzt: Varia­tion und Selektion – für die Neubildung von Struktur in allen Bereichen der un­belebten und belebten Natur ist. In der Tat sind das Prinzip der Evolution und die Gesetze komplexer Systeme Muster, die auf allen Ebenen des Seins wieder­kehren und die Bereiche von Natur­ und Geisteswissenschaften verbinden.

Das Evolutionsprinzip ist der einzige kreative Mechanismus in diesem Univer­sum. Im Gehirn werden Varianten von neuronalen Mustern und Ideen in Fülle produziert und dann selektiert („Brain­ storming“), auf gesellschaftlicher Ebe­ne tritt uns die Evolution als kulturelle Evolution entgegen: Variierende Formen sozialer Organisation machen Gemein­schaften mehr oder weniger fortschritts­- und damit durchsetzungs­- und überlebensfähig in Auseinandersetzung mit anderen Gemeinschaften.

Als besonders evolutionskonform und damit fortschrittswirksam haben sich Markt und Demokratie erwiesen: Pro­dukte beziehungsweise Politkonzepte werden in vielen Varianten produziert und vom Kunden/Wähler selektiert. Gesellschaften, die diese Mechanismen planwirtschaftlich oder gar autoritär abwürgen, müssen langfristig in Sta­gnation und Zerfall enden. Hier ließen sich die Grundpfeiler des Liberalismus systemwissenschaftlich fundieren.

Unser Universum ist eine Verschach­telung von Evolutionsprozessen, bei denen die langsameren die Randbedin­gungen für die schnelleren setzen, wo­bei Letztere auf Erstere modifizierend zurückwirken können, wofür es aber Grenzen gibt. Immer muss das Zusam­menwirken mehrerer Evolutionsschich­ten in die Betrachtung einbezogen wer­den, und bestimmte Randbedingungen sind unveränderliche Realitäten, mit denen man umzugehen lernen muss. So sind bestimmte Neigungen des männ­lichen beziehungsweise weiblichen So­zial­- und Sexualverhaltens angeboren – etwa die männliche Präferenz für Äu­ßerlichkeiten, die auf hohe Fruchtbar­keit hinweisen, oder die weibliche Prä­ferenz materieller Ressourcen mit Blick auf die Aufzucht der Kinder.

Das Gleiche gilt für Phänomene wie Fremdenaversion oder Fremdgruppen­abwertung. All diese Neigungen brach­ten in der Steinzeit Überlebensvorteile, auch wenn sie heute aus der Perspek­tive kultureller und moralischer Wer­te zweifelhaft oder falsch sind. Wir können zwar lernen, derartige Verhal­tensneigungen einzugrenzen oder zu unterdrücken, doch wenn wir die Spon­taneität des Miteinanders nicht völlig abwürgen wollen, wird ein Rest dieser Steinzeitimpulse erhalten bleiben und immer einmal negativ durchschlagen.

Im Umgang damit braucht es spiele­rischen Humor, Resilienz und Konflikt­fähigkeit. Schon in den Schulen sollte evolutionspsychologisch fundierte Selbstkompetenz unterrichtet werden: Welche steinzeitlichen Verhaltensnei­gungen sind auf die menschliche Natur überkommen? Wie förderlich sind sie im kulturellen Kontext für das Glück des Kulturwesens Mensch? Wie kann man lernen, mit ihnen umzugehen? Ideen wie die Leugnung einer menschlichen Natur durch weite Teile der Sozialwissenschaften, das Ignorie­ren der Biologie durch extreme Gender­theoretiker oder die Utopie einer abso­lut harmonischen, maximal diversen Multikulti-Gesellschaft lassen sich in einem evolutionistisch­-systemischen Weltbild als Unsinn entlarven.

Vor diesem Hintergrund ließen sich Grundpfeiler eines modernen Konser­vatismus natur­- und systemwissen­schaftlich fundieren, insbesondere durch die Evolutionspsychologie. Wel­che essenziellen Rahmenbedingungen braucht das Menschliche für ein gesun­des und reiches Gedeihen? Wie lassen sich diese Rahmenbedingungen durch moderne Institutionen so konservieren und schützen, dass ihnen die immer stärkeren und disruptiveren Eigen­dynamiken der Technologieentwick­lung nichts anhaben können?

So weit die grobe Skizze einiger wichti­ger Schritte in Richtung Schließen der Kluft zwischen den Naturwissenschaf­ten und den Geistes­- und Sozialwissen­schaften. Doch wir müssen noch weiter fortschreiten, zu einer vierten Kultur, die die Kluft zwischen Wissenschaft und Religion schließt. Und auch dies wäre heute möglich, auch hierfür liegen die Bausteine seit Langem bereit.

Zur ewigen Essenz von Glauben und Spiritualität mischen sich Staunen, Demut, Liebe und Hoffnung in Bezug auf einen unverfügbaren schöpferi­schen Urgrund. Genau dafür eröff­net ein evolutionistisch­systemisches Weltbild unabweisbar einen rational definierbaren Raum, da es offensicht­lich prinzipiell nicht überschreitbare Grenzen des menschlichen Erkenntnis­vermögens gibt. Die Diskrepanz zwi­schen der äußeren Realität und der uns von unseren evolutionsgeschichtlich entstandenen, beschränkten Sinnes­organen im Gehirn erzeugten inne­ren Wirklichkeit ist sehr groß. Gäbe es einen irgendwie intentionalen Schöpfer, wäre er von so gewaltiger Komplexität, dass wir seine Offenba­rungen so wenig verstehen könnten wie unsere Haustiere die „Tagesschau“.

Auch wenn dieser Urgrund unserer Existenz prinzipiell erkenntnisjenseitig ist, ist es gleichwohl vernünftig, ihn mit positiven Vorstellungen zu füllen, die dem Gedeihen des Einzelnen und der Gemeinschaft förderlich sind, ihm mit Demut, Liebe und Hoffnung zu begegnen und ihm einen Namen zu geben, gleich ob Gott, Jahwe, Allah oder Brahman. Für den Bereich des prinzipiell Erkenntnisjenseitigen gilt: Wahr ist, was hilft und heilt (und sei es auch „nur“ durch den Placeboeffekt).

Es gilt zu akzeptieren, dass die religiösen „Offenbarungen“, Narrative und Praktiken Produkte der kulturellen Evolution sind, die Gemeinschaften in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Gemeinschaften mehr oder weniger fortschrittsfähig machen. Selbstverständlich können und müssen Kulturen und Religionen daran gemessen werden, wie gut ihnen diese Gedeihensförderung des Humanen gelingt. Nirgendwo wurde dies besser auf den Punkt gebracht als in der Ringparabel in Lessings „Nathan“. Der US-Ökonom Thomas Sowell hat empirisch untersucht, wie unterschiedlich Kulturen als „Betriebssysteme des Alltags“ performen. Nachgerade sprichwörtlich ist der Zusammenhang zwischen Protestantismus und Wirtschaftswachstum.

Die großen Kulturen und Religionen schulden sich leider nicht allzu viel hinsichtlich ihres Potenzials für Gewalt und Grausamkeit – die innerafrikanische Sklaverei zum Beispiel war nicht weniger furchtbar als die von den Weißen betriebene. Worin sie sich aber sehr unterscheiden, ist ebendiese Fortschrittsförderung. Und hier ist es das Christentum, das positiv heraussticht.

Autoren wie Tom Holland („Herrschaft“) oder Joseph Henrich („Die seltsamsten Menschen der Welt“) haben im Detail herausgearbeitet, welche strukturellen Besonderheiten des Christentums es waren, die die Wege zu Aufklärung, Humanismus, wissenschaftlich-technischer Revolution, Industrialisierung und liberaler, rechtsstaatlicher Demokratie öffneten. Das Christentum ist Ursprung und irreduzibler Bestandteil der westlichen Kultur.

Freilich muss es sich erneuern, um auch weiterhin zugänglich, vital und förderlich zu bleiben: Es sollte sein eigenes Gewordensein aus der Perspektive der kulturellen Evolution hineininterpretieren und dabei auch Glaubensinhalte korrigieren und modernisieren, um sie mit einer vernunftbegründeten Spiritualität verbindbar zu machen, die nicht im Widerspruch zu wissenschaftlichen Befunden steht. So könnte es sich als Leitstern einer westlichen Leitkultur reetablieren, deren Wertesystem zusätzlich aus anderen Quellen angereichert wird, etwa aus der philosophischen Ethik.

An einer solchen Reformation 2.0 führt wohl kein Weg vorbei – schon Papst Johannes Paul II. stellte 1996 fest, dass die Evolutionstheorie „mehr als nur eine Hypothese“ sei. Dieser Weg könnte uns in eine vierte Kultur führen, in der sich die wichtigen Teilkulturen des Westens mit ausreichender Kohärenz integrieren. Dies wäre deutlich mehr als ein bloßes Kulturchristentum.

Zudem könnte ein solches Projekt auf vielen Ebenen kreative Impulse freisetzen für eine Erneuerung und Weiterentwicklung der geistigen Substanz des Westens – auch in der Wissenschaft: Nicht wenige Disziplinen sind entschwebt in Sphären weit jenseits von Faktenbezogenheit und Relevanz.

Andere stecken fest in den Tunneln der Hyperspezialisierung. Allein die zwischenzeitliche Bezugnahme auf ein Bild des Ganzen könnte hier Abhilfe schaffen und allfällige Neujustierungen in Richtung Relevanz ermöglichen.

Wir brauchen Institutionen, die an einer solchen evolutionistisch-systemischen Leitkultur arbeiten, und wir müssen sie in den Schulen vermitteln; nicht als Dogma, sondern als Vorschlag, mit dem es sich kritisch auseinanderzusetzen gilt – im Sinne einer sozialen DNA, die alle verbindet.

Der Einzelne ist heute mit der Erarbeitung einer ganzheitlichen Weltvorstellung völlig überfordert. Dabei ist sie so wichtig und notwendig, nicht zuletzt für seine Teilnahmefähigkeit an der Demokratie: Fast alle gesellschaftlichen Probleme erfordern heute hochkomplexe Abwägungsentscheidungen, bei denen eine Vielzahl von Aspekten in Graustufen kühl gegeneinander auszutarieren ist, was nur gelingen kann, wenn man mit Abstand das Gesamtbild sieht. Die oft gefühlsgeleitete Überbetonung von Teilaspekten ist heute einer der Hauptgründe für politische Fehlentwicklungen. Der Beispiele gibt es genug: den R-Wert in der Pandemie, der CO2-Ausstoß in der Klimadebatte.

Nur wenn es uns gelingt, in diesem Sinne die Integration der westlichen Gesellschaften wieder zu steigern, ohne in dogmatische Erstarrung zu verfallen, kann die Kultur des Abendlandes den sich anbahnenden Herausforderungen widerstehen und sich als Hochkultur weiterentwickeln, mit all ihren unvergleichlichen Segnungen für die gesamte Menschheit.

Und damit müssen wir uns wohl beeilen. Das Internet saugt immer größere Teile der Bevölkerung in irrationale Parallelwelten, Wissenschaftsfähigkeit wird in den Schulen immer weniger reproduziert. Kipppunkte und Selbstverstärkungsmechanismen sind leider charakteristisch für nichtlineare, auch soziokulturelle Systeme. In der Tat gibt es nichts Absurderes als die aktuelle wokeistische Selbstverzwergung von Teilen der westlichen Eliten.

Auch wenn die westliche Kultur in der Geschichte gleich allen anderen Kulturen Schuld auf sich geladen hat, sind Christentum, Aufklärung, Wissenschaft und regelbasierte Institutionen mit weitem, weitem Abstand das Wundervollste, Bewahrens- und Fortsetzungswerteste, was die Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat. All dies hat die Lebensbedingungen von Milliarden Menschen weltweit in unglaublicher Weise verbessert. Diesen Weg weiterzugehen, dabei sukzessive das Negative einzugrenzen und das Positive zu fördern, ist das Einzige, was die Menschheitsprobleme lösen kann. Frei nach Goethe: Die Evolution ist jene Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.

Auch wenn der Fortschritt stets ambivalent ist: Wir haben allen Grund, stolz auf diese Kultur zu sein, sie robust und mit Selbstbewusstsein zu vertreten und an ihrem universalistischen Grundanspruch festzuhalten.

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