
Rund ein Jahr nach dem „Tag der Entscheidung“, mit dem die FDP die Endphase der Ampel-Koalition einläutete, verspricht die Union ihrer ungeduldigen Basis den „Herbst der Entscheidungen“. Doch was nach Tatkraft klingt, ist in Wahrheit eine Zitterpartie und ein riskantes Spiel mit den Erwartungen der Mitglieder und Wähler der Kanzlerpartei.
Entscheidungen sind gut, nur ob es auch gute Entscheidungen sind, ist noch offen. Am Montagnachmittag rief Kanzler Friedrich Merz (CDU) die Unionsminister, Fraktionschef Jens Spahn und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann zusammen, um über die Strategie der nächsten Wochen und Monate zu beraten. Nur wenig drang aus der Spitzenrunde nach draußen. Zunächst soll erst einmal Ruhe bewahrt werden bis zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen (am 14. September), dann sollen bis zum Jahresende wichtige Reformweichen gestellt werden. Welche und wie bleibt einstweilen offen, und auch das Stillhalten mit Rücksicht auf die eigenen Wahlkämpfer ist ein gängiges Thema bei der Union. Irgendwo wird immer gewählt.
Doch bei den Mitgliedern wächst die Ungeduld.
Merz und seine Minister bei der Kanzlerwahl vor wenigen Monaten – am Montagnachmittag berieten sie über die Strategie der kommenden Wochen.
Beispiel Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht. In der Unionsfraktion hält sich das Gerücht, die vormalige SPD-Justizministerin Katarina Barley soll anstelle der umstrittenen Juristin Frauke Brosius-Gersdorf nominiert und von der Union ohne Wenn und Aber mitgewählt werden. Augen zu und durch für eine lupenreine Genossin?
In der Union kursiert das Gerücht, Katarina Barley könnte statt Frauke Brosius-Gersdorf nominiert und gewählt werden.
Beispiel Bürgergeld. Die Union will nicht nur den Namen abschaffen und durch „Grundsicherung“ ersetzen, sondern vor allem die Zahl der Bezieher und die Höhe des Etatpostens reduzieren. „Das Bürgergeld muss weg“, gab CSU-Chef Markus Söder dieser Tage in der Bild zu Protokoll und weckte damit beträchtliche Erwartungen an die kommenden Einschnitte. Erwartungen, die SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf in der Stuttgarter Zeitung umgehend zurechtstutzte: „Unser Sozialstaat ist eine zentrale Errungenschaft unserer Demokratie und das Fundament jener sozialen Marktwirtschaft, die Deutschland stark gemacht hat.“
Beispiel Steuererhöhungen. Noch am Wochenende hatte Kanzler und CDU-Chef Friedrich Merz beim Landesparteitag in Niedersachsen Erhöhungen der Einkommenssteuer unter seiner Führung kategorisch ausgeschlossen. Auch im Koalitionsvertrag steht nichts davon. Doch nun brachte ausgerechnet CDU-Haushälter Andreas Mattfeldt in der Bild Steuererhöhungen für Bezieher höherer Einkommen ab 250.000 Euro pro Jahr (Single) ins Gespräch. Auch könne man über bestimmte Formen der Erbschaftssteuer sprechen.
Die Wahlkämpfer der CDU in Baden-Württemberg, die im kommenden Jahr bereits im März den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ablösen und seinen Möchtegern-Nachfolger Cem Özdemir aus dem Feld schlagen wollen, können eine solche Umfaller-Debatte ganz und gar nicht gebrauchen. Und auch sonst machen sich in Berlin schon manche Beobachter über die markigen Posen der Union lustig, die regelmäßig sofort wieder eingesammelt werden, wenn die SPD mit dem Zeigefinger droht.
Jüngstes Beispiel: Die Union wollte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zwingen, verbindliche Zahlen für den Aufwuchs der Bundeswehr ins neue Wehrdienstgesetz zu schreiben. Im Klartext: Wenn bestimmte Soll-Stärken der Truppe nicht erreicht werden, wird automatisch von Freiwilligkeit auf Wehrpflicht umgestellt. Um Streit zu vermeiden, sammelte Kanzler Friedrich Merz den Protest seines Außenministers gegen den Pistorius-Entwurf kurzerhand wieder ein.
Boris Pistorius (SPD), Verteidigungsminister, spricht im historischen Rathaus von Osnabrück anlässlich des Besuchs des französischen Verteidigungsministers.
Auch die von der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock zur Einreise nach Deutschland vorgesehenen Afghanen, die derzeit in Pakistans Hauptstadt Islamabad auf ihre Papiere warten, sollen dem Vernehmen nach gegen den Widerstand von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) mittelfristig kommen dürfen. Milliarden-Subventionen für „Grünen Stahl“, die Merz im Wahlkampf noch abgelehnt hatte, laufen im Stillen weiter, und heikle gesellschaftspolitische Streitpunkte wie das Selbstbestimmungsgesetz sollen irgendwann von einer Kommission „evaluiert“ werden. Prognose: Alles bleibt, wie es ist.
Mit anderen Worten: Links ist nicht zu Ende, wie Merz noch im Wahlkampf erklärt hatte, und die Union wird kaum liefern können, was sie versprochen hat. Mit anderen Worten: Die hohen Erwartungen an Merz’ Kanzlerschaft werden genauso enttäuscht, wie es unter Angela Merkel zum Schluss der Fall war. Und der Blick in die Umfragen macht an der Basis von CDU und CSU auch nicht viel Hoffnung, aus dieser Koalition stärker herauszukommen, als man hineingegangen ist.
Friedrich Merz (CDU) spricht bei einer CDU-Wahlkampfveranstaltung im Darmstadtium am 23. Februar 2025. Von den Wahlversprechen ist nicht viel übriggeblieben.
Wenn sich Union und SPD weiter argwöhnisch belauern, könnte so aus dem „Herbst der Entscheidungen“ am Ende ein Herbst der Enttäuschungen werden. Bei der gemeinsamen Klausur der Fraktionsvorstände von CDU, CSU und SPD am Donnerstag in Würzburg sollten die Auftaktbilder deshalb auf der Main-Brücke entstehen. Symbolbilder sind immerhin leichter zu produzieren als Erfolge.
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