Komm Heiliger Geist! Gedanken zu Pfingsten

vor 9 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Die Klagen über die gespaltene Gesellschaft sind vor allem eins: Beweis für ein gesichert gespaltenes Bewusstsein. Der neurotische Zustand der Klagenden ist daran zu erkennen, dass sie echte Gefahren übersehen und hysterisch auf vermeintliche Gefahren starren. In Wahrheit spaltet der permanente Ruf nach dem großen WIR – weil er Konsens verlangt. Zwanghafter Konsens aber umgeht notwendige Auseinandersetzungen, diskriminiert Andersdenkende.

Keine noch so schwachbrüstige Politiker/Pastoren/Moderatoren-Rede ohne das Wort „Zusammenhalt“. Es ist selbst ein nicht sehr elegant zusammengehaltenes Wortpaar. Zusammengehalten werden soll, was nicht zusammengehört. Zusammenhalt wird verwechselt mit: Alle haben mehr oder weniger die gleiche Meinung. Man sagt heute lieber Haltung statt Meinung. Weil Haltung moralischer klingt. Über Meinungen lässt sich streiten. Haltungen aber sind richtig oder falsch, gut oder schlecht. Der Haltungsvertreter beendet den Diskurs, ehe er beginnen kann. Denn das Wahre und Gute ist alternativlos. Die Gegenhaltung kann nur böse also unannehmbar sein. So funktioniert weder Demokratie noch „Zusammenhalt“.

Der Tell-Hut auf der Stange, den heute jeder grüßen soll, ist eine Kappe, auf der „Zusammenhalt“ steht. Es ist die wahre Autorität, der sich alle beugen sollen. Das große WIR feiert das Kollektiv, diffamiert Selbstdenker als Querdenker und nimmt dem Individuum die Freiheit. Damit sind vor allem die regierenden Parteien (plus die heimlich mitregierenden Grünen) hauptsächlich beschäftigt. Sie halten zusammen, obwohl sie nicht zusammengehören. Sie teilen die irrige Auffassung, dass die Wähler nur gefälligst „demokratisch“ wählen sollten und das Maul halten. Demokratisch ist für sie eine Haltung, die einzige erlaubte.

Demokraten beschädigen die Demokratie, wenn sie die Mühen der demokratischen Auseinandersetzung verachten. Zensoren tarnen sich als Friedensstifter. Sie säen Misstrauen und Missgunst. Die Folge ist Blasenbildung. Die Meinungsblasen, in der sich viele Bürger aufhalten, schützen davor, etwa in Frage zu stellen. Man will mit Andersdenkenden nichts zu tun haben, ihnen nicht zuhören oder gar mit ihnen streiten. Man lehnt sie ab. Das muss genügen. Je mehr die Blasen zusammenhalten, desto weniger hält das Ganze zusammen. Im Großen wie im Kleinen: Die anderen werden aussortiert, auch aus dem Freundeskreis. Offen zu sagen, was man will, sei nur noch in der eigenen Blase möglich, glauben viele.

Bertold Brecht schrieb das „Lied des Speichelleckers“. Es beginnt so: Meine Seele kommt in Aufruhr Alles in mir revoltiert Wenn ich einen Menschen sehe Der mit Recht von Jedermann gemieden wird. In der zweiten Strophe heißt es: Was der immer auch getrieben Darauf kommt es gar nicht an. Er ist oben nicht gut angeschrieben Damit ist er für mich abgetan. Sind wir ein Land von Speichelleckern? Immer noch?

Die meisten Bürger reagieren auf den Zwang zum Konformismus mit Anpassung und Leisetreterei – sie gehen dem Konsens aus dem Weg, indem sie gar nicht mehr meinen, und bald auch nicht mehr denken. Denken ist unbequem, macht Schwierigkeiten. Wer will schon gecancelt oder auch nur schräg angesehen oder als Schädling der Demokratie beschimpft. werden. Wer sagt, was er denkt, kann es tun, aber er eckt an. Wer nicht sagt, was er denken soll, sowieso. Wir leiden auch unter Bekenntniszwang. Das ist das Paradox des Zusammenhaltens um jeden Preis: Es stärkt nicht den Zusammenhalt, es führt zur stillschweigenden Vereinzelung. Das ist keine Frage von links und rechts. Die Links-Rechts-Spaltung ist sinnlos, wenn sie nur dazu dient, Andersdenkende auszugrenzen. Diejenigen, die am lautesten Zusammenhalt fordern, grenzen am wirkungsvollsten aus.

Geist, ob heilig oder profan, ist eine Kraft, die in Frage stellt, die sich auf nichts verlässt, außer auf den Segen der Skepsis. In diesem Sinne leben wir in einer unseligen Gesellschaft, die Friedhofsruhe für erstrebenswert hält, weil sie zu faul, zu träge, zu dekadent ist, Streit zu ertragen. Das Pfingstwunder besteht übrigens nicht darin, dass plötzlich alle dieselbe Sprache sprechen, sondern darin, dass alle einander trotz ihrer Vielsprachigkeit verstehen.

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