
„Reichelt hat es nicht geschafft, eine Frage zu stellen“, meldet der t-online-Journalist Bastian Brauns. Seltsamerweise ist der Chefredakteur von Nius zu einem Zentrum der Berichterstattung rund um das Oval Office geworden – dabei ging es eigentlich um Merz und Trump. Der Bundeskanzler war zum Antrittsbesuch in Washington – und die Presse, die einen Skandal wie zwischen Trump und Selenskyj geradezu herbeigesehnt hatte (dann würden nämlich alle sehen, wie richtig die Redaktionen schon immer mit ihrem Trump- und Amerika-Bashing lagen), wurde enttäuscht.
Und musste sich das nächstbeste Skandalobjekt herbeiholen, um sich doch noch über irgendetwas empören zu können. Zum Glück war Julian Reichelt da. Der hat zwar, wie t-online-Mann Brauns schon vermeldet hat, gar keine Frage stellen können. Die deutsche Presse kreist trotzdem geradezu absurderweise um ihn.
Von 21 Posts und Reposts, die etwa ein Herr Brauns auf X zum Event im Oval Office abgesetzt hat, widmen sich acht der Anwesenheit von Julian Reichelt – ein echter Berichterstatter muss eben Prioritäten setzen. Irgendwo zwischendurch las man von ihm auch etwas über Merz und Trump. Auch Welt-Journalist Robin Alexander postet plötzlich Fotos vom Hinterkopf Reichelts, als ginge es im Oval Office nicht um die große Weltpolitik, sondern um den offenbar gefährlichsten Schädel des deutschen Journalismus.
Den Kollegen behandeln die deutschen Journalisten wie einen Fremdkörper – und in gewisser Weise war er das auch. Während sie nämlich im Kanzler-Tross per Regierungsflieger eingereist waren, kam Reichelt auf eigene Faust, unabhängig von der Bundesregierung, die ihn ganz sicher nicht da haben wollte. Vor allem aber schienen sich die übrigen Journalisten einig zu sein: Reichelt darf bloß nicht zu Wort kommen.
Die Sorge, dass Reichelt tatsächlich eine kritische Frage hätte stellen können, trieb die versammelten Berichterstatter so richtig um. Bis schließlich Bastian Brauns von t-online meldet: „Überraschung misslungen“, inklusive Handshake-Emoji. Der „Playbook“-Newsletter von Politico meldet am Morgen danach geradezu triumphal: „Julian Reichelt war da, kam aber nicht zu Wort (*schnief*).“
Das Triumphgeheule ist entlarvend: Allein die Möglichkeit einer kritischen Frage wird schon als Sabotage begriffen. Wie kommt dieser Mann hier überhaupt rein? Bei Merz durfte Reichelt schließlich nicht mitfliegen und das, finden ungefähr alle, hat auch seine Richtigkeit. Dass er trotzdem anwesend ist, wird fast wie ein versuchter Anschlag behandelt, inklusive echtem Verschwörungsgeschwurbel. Gemeinsam mit dem Merz-Team sorgt man sich vor dem Szenario, Reichelt könnte gar eine kritische Frage zur Meinungsfreiheit in Deutschland stellen. Brauns von t-online meldet, Reichelt sei von der US-Administration ins Oval Office „geschleust“ worden.
Wie und warum der US-Präsident irgendwelche Leute in seinen eigenen Amtssitz mit krimineller Energie „schleusen“ muss, bleibt an der Stelle offen. Auch das Portal Der Westen aus dem Hause der Funke-Mediengruppe meldet im gleichen Stil: „Julian Reichelt wird von Trump-Team eingeschleust“. Das ist wirklich dahinsiechender Reste-Journalismus, ohne Gedanken, aber mit viel Haltung. Vor allem Haltung gegen kritische Fragen.
Robin Alexander von Welt tut derweil die Sorge des Merz-Teams kund, dass Reichelt oder andere „mit ihren Fragen einen Streit vor Kameras zwischen Trump und Merz“ auslösen könnten. Und das muss natürlich verhindert werden – wehe, ein Journalist sabotiert mit seinen kritischen Fragen die Politik des Bundeskanzlers!
Die ganze Posse offenbart mal wieder viel über das journalistische Selbstverständnis – Wer bei dem Gedanken, jemand könnte doch eine kritische Frage stellen, Schnappatmung bekommt und quasi eine Wagenburg um den Kanzler bildet, hat seinen Beruf akut verlernt. Und wer in einer kritischen Frage, die die politisch gewünschte Eintracht stören könnte, einen Sabotageakt sieht, könnte eigentlich auch direkt beim Bundespresseamt anfangen. Im Geiste arbeitet derjenige offenbar schon dort.
Klar, das Mitreisen im Kanzler-Jet, die vertraulichen Hintergründe und die Zugänge zu Politikern, zu denen man lange genug freundlich war – das verändert einen. Aber, liebe Kollegen: Nur weil man im Regierungsflieger des Kanzlers mitfliegen darf, ist man noch lange nicht sein medialer Bodyguard oder sein Geleitschutz für eine Pressekonferenz. Das allerdings ist das Selbstverständnis des sogenannten Hauptstadtjournalismus geworden – Berichterstattung im Zweifel in Eintracht mit den Mächtigen statt im Gegensatz. Dass bei Merz‘ Washington-Reise plötzlich der eine anwesende Journalist im Mittelpunkt steht, der sich diesem Modus Operandi nicht unterwirft, ist bezeichnend.
Und warum keiner der sonst anwesenden deutschen Journalisten eine solche Frage nach der Meinungsfreiheit in Deutschland stellt, scheint sich keiner von ihnen zu fragen. Dabei ist das Ganze ja nicht nur ein genuiner Missstand hier zuhause, sondern auch Streitpunkt zwischen US-Administration und Bundesregierung. Fragen und Antworten dazu wären doch von höchstem Interesse. Zumindest für jeden, der wirklich noch Journalist ist. Wer aber eher „Sabotage“ am Kanzler fürchtet, hat sich schon in den Dienst der Regierungspolitik gestellt – der „konstruktive Journalismus“ an der Seite der Mächtigen.