Leben in der real existierenden Post-Merkel-Ära

vor 9 Tagen

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Bildquelle: Apollo News

Als ich noch nicht alle meine Milchzähne verloren, den Glauben an Feen noch nicht so ganz aufgegeben und noch sehr viele Schuljahre vor mir hatte, da war mein wöchentliches Taschengeld von zwei Euro ein kleines Vermögen für mich. Es schaffte seinen Weg nie in meinen kleinen rosa Sparteddy, sondern wurde so investiert, wie es meine Mitschüler alle taten: Bei dem kleinen Lottoladen um die Ecke.

Dort konnte man sich seine eigenen Süßigkeiten-Tüten zusammenstellen. 5 Cent für die kleineren Teile, die großen Schlümpfe, die fast so groß waren wie meine Hand, kosteten 25 Cent, die sauren Kaugummis 50 Cent. So ein Kiosk ist für ein Kind ein ziemlich interessantes Geschäft.

Der Lottoladen lag auf meinem Schulweg. Es war ein ganz besonderer Tag, wenn er die oberste Schlagzeile der Bild-Zeitung in einem Aufsteller vor dem Laden ausstellte. Kinder können sich nicht wirklich selbst informieren, sie erfahren nur, was die Erwachsenen ihnen erzählen. Aber dieser Aufsteller ermöglichte es, wenigstens eine Nachricht selbst zu erfahren.

Das waren Flugzeugunglücke, der Tod von Steve Jobs, Kreuzfahrtschiffunglücke, der Tod von Michael Jackson. Oft waren die Schlagzeilen jedoch ebenso wenig jugendfrei wie die seltsam geformten Spaßnudeln und das weitere Repertoire für Junggesellinnenabschiede, die man im Lottoladen kaufen konnte.

Im Laden konnte man einen Blick in die Welt der dunklen Laster der Erwachsenen erhaschen. Alkohol, Zigaretten, Lottolose, Zeitungen mit leicht bekleideten Frauen. Billige Last-Minute-Hochzeitsgeschenke und Plüschtiere für vergessene Geburtstage, Postkarten für Geburtstage, Krankheiten, Todesfälle. Und dann war da noch ein Ständer mit lustigen Postkarten.

Sie waren für mich so wie das Zille-Buch, das meine Eltern aus Platzgründen in meinem Bücherschrank verstaut hatten. Wenn mir langweilig war, blätterte ich darin herum, es waren schließlich Zeichnungen, also musste es ja ein Kinderbuch sein. Doch ich verstand die Sprüche nicht. Also las ich sie wieder und wieder und versuchte, sie zu verstehen.

Manche dieser Zeichnungen haben sich in meinem Kopf eingebrannt und ich verstehe sie erst heute, Jahre später, plötzlich durch einen Geistesblitz. So war das mit den Postkarten. Auf einer war ein alter Mann mit Halbglatze zu sehen und eine Frau mit seltsamem Topfhaarschnitt. „Erst hatten wir den Kohl, jetzt haben wir den Salat“, stand da drauf. Erst später, als ich die Gesichter von Helmut Kohl und Angela Merkel das erste Mal im Zusammenhang mit ihren Namen lernte, verstand ich die Postkarte.

Ich kannte natürlich den Namen Merkel, schon seit ich fünf Jahre alt war und sie ins Amt kam. Ich hatte mitgehört, dass die Erwachsenen sie nicht mochten und meine Eltern sich über sie aufregten. Mein Vater versuchte mir damals etwas über die DDR und ihr Studium in Russland zu erzählen, auch wieder Dinge, die ich erst lange später verstand. Das Einzige, das bei mir damals ankam, war, dass Merkel sich mit Ferkel reimte.

Wenn ich sehe, wie eng ich das politische Geschehen heute verfolge und wie selbstverständlich ich mich selbst informieren kann – und wohl selbst heute Witze schreibe, die Kinder nicht verstehen, ist es seltsam, daran zurückzudenken, wie ich in diese politische Welt hineingewachsen bin.

Von dem ersten Tag an, an dem ich mitbekam, dass da eine Frau namens Merkel meinen Eltern offenbar das Leben schwer machte, bis ich zum ersten Mal selbst wählen durfte, war Merkel in dieser politischen Entwicklung präsent und an der Macht.

Meinen Eltern machte sie über die Jahre immer mehr das Leben schwer und irgendwann auch mir. Besonders nach 2015, als Vergewaltigungseinzelfälle die Nachrichten prägten, ich auf der Straße für zu kurze Röcke bespuckt wurde und uns in der Schule eingetrichtert wurde, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben.

Irgendwann prägte ein Satz die politischen Diskussionen bei uns zu Hause: „Wenn die endlich weg ist, stoßen wir an, ich stelle schon mal den Sekt im Keller kalt!“ Diese Frau wurde zu mehr als nur einer Person. Auf beiden Seiten. Die Merkel-Raute wurde zu einem Symbol, mit dem sich die CDU schmückte und das in Karikaturen aufgegriffen wurde, „Mutti“ sagten die einen liebevoll, die anderen zynisch.

Alle anderen Amtsträger in ihren Kabinetten sah man nur als Spielfiguren, sie war die Regierung, sie war die Politik. Und alles, was geschah, alles, was entschieden wurde, verband man nur mit ihr. Als ihre letzte Amtszeit sich dem Ende näherte, war das unwirklich. Man glaubte nicht so wirklich daran, irgendein Ass würde sie noch im Ärmel haben. Es kann doch nicht sein, dass so eine lange Ära einfach nonchalant abgewählt wird.

Doch so kam es. Und plötzlich war sie einfach weg. Ein Grund zum Feiern? Der Sekt blieb bei uns zu Hause im Keller. Über das Danach hatte man nie wirklich nachgedacht. Man lebte im Jetzt und wartete auf den Tag, an dem dieses Jetzt sich endlich verändert. Und weil es so von dieser einen Person geprägt war, knüpfte man es an sie.

Das Konstrukt von Bundespolitik, die jeden Aspekt des Alltags beeinflusst, die nicht so agiert, wie man es sich wünscht, in der man aber keinen wirklichen Einfluss hat, die größer ist als man selbst, mit Konsequenzen und Folgen, die man nicht absehen und nicht stoppen kann, die Verzweiflung und Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit – das alles konnte man an eine Person knüpfen.

Auch wenn man sie manchmal zu mehr machte, sie fast schon unsterblich wähnte, ist Angela Merkel nur ein Mensch. Ein Mensch, der nicht ewig an der Macht ist und nicht wirklich unsterblich ist, nur ein einziger Mensch. Es gibt etwas Hoffnung zurück, denn es vermenschlicht das Problem, das einem unlösbar vorkommt. Und es knüpft eine Ära an ein Ablaufdatum.

Jetzt leben wir in der Post-Merkel-Ära. Hat sich etwas an unserer Lebensqualität geändert? Ist irgendwas besser geworden? Nein, natürlich nicht. Ihr System lebt weiter. Wenn man ehrlich ist, hat man nie etwas anderes erwartet. Wieso sollte auch alles ohne sie an der Spitze anders werden?

Die Kanzler werden jetzt wild ausgetauscht. Man dachte erst, es würde mit Laschet so weitergehen, dann ging es doch mit Scholz weiter, jetzt wohl mit Merz. Man macht sich schon gar keine Mühe mehr, irgendwas Politisches an irgendwen zu knüpfen. Ob Scholz weg ist oder Habeck aus der Politik oder Baerbock ins Ausland geht, das ist alles egal.

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