
Am 20. September werden tausende Menschen aus ganz Deutschland in Berlin und Köln erwartet, um im Rahmen des „Marsches für das Leben“ für das Lebensrecht „von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod“ zu demonstrieren – passenderweise am diesjährigen „Weltkindertag“. Zum dritten Mal findet die vom Bundesverband Lebensrecht (BVL) organisierte Veranstaltung in Berlin und Köln zeitgleich statt, ebenso versammeln sich Lebensrechtler in Bern zum „Marsch fürs Läbe“. Anfang Oktober wird die vierte große Lebensrechtsdemonstration im deutschsprachigen Raum in Wien stattfinden.
Im vergangenen Jahr fanden sich in Köln und Berlin geschätzt ca. 8000 Teilnehmer ein. Dr. Paul Cullen, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands Lebensrecht, schätzt, dass es in diesem Jahr mindestens ebenso viele sein werden. Durch die Diskussionen um die geplante Wahl Frauke Brosius-Gersdorfs zur Verfassungsrichterin sei das Thema sehr präsent.
Der Fall Brosius-Gersdorf könnte tatsächlich eine Zäsur für die Lebensrechtsbewegung darstellen. Ihre Nominierung war auf breiten Widerstand gestoßen – nicht zuletzt, weil sie als Sachverständige bereits im Frühjahr 2025 Teil des Versuchs von SPD, Grünen und Linken war, Abtreibung im Handstreich noch vor den Neuwahlen zu legalisieren. Im Zuge einer öffentlichen Anhörung hatte sich die zweifelhafte Haltung Brosius-Gersdorfs zur Menschenwürde gezeigt. In der Folge waren es maßgeblich Lebensrechtler, die die drohende Aushebelung der Menschenwürdegarantie erkannten, und CDU-Parlamentarier sowie die Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam machten.
Paul Cullen sieht in der Nominierung Brosius-Gersdorfs eine Reaktion auf das Scheitern der parteiübergreifenden Initiative. Das Festhalten am Lebensrecht des Menschen von Anfang an sei eine der letzten Bastionen, die es aus Sicht linker Kulturkämpfer zu schleifen gälte. Im Scheitern dieses Ansinnens sieht er Ansätze eines tiefgreifenderen kulturellen Wandels. Er habe etwa nicht damit gerechnet, „dass es noch so viele Abgeordnete in der CDU gibt, denen das Lebensrecht ein Herzensanliegen ist“. Medien wie Tichys Einblick, Apollo und nius hätten dem Thema Raum geboten und den Diskurs ermöglicht. Bürger, Politiker, Medien, die sich dem vorgegebenen Narrativ erfolgreich widersetzen: „Ein Wendepunkt“, so Cullen.
Lebensrechtler haben hier also eine Sachdebatte angestoßen und in einer grundlegenden Angelegenheit eine Form von Bürgersinn gezeigt, die unüblich geworden ist in einem Land, das zunehmend technokratisch und von einer Politikerkaste am Volk vorbei regiert wird. Nicht schlecht für eine Bewegung, die zahlenmäßig eher als „Nische“ zu betrachten ist – wenn auch ihre Themen von existenzieller Bedeutung für die Gesellschaft sind. Und ein Beleg dafür, dass es kein Naturgesetz ist, dass prägende Initiative immer nur von linken Minderheiten auszugehen hat: Immerhin wurde hier ein Vorstoß zur Politisierung der deutschen Justiz abgewendet.
Es wird sich freilich zeigen müssen, ob die Bewegung diesen Impuls nutzen kann, um mit gestärktem Selbstvertrauen die Relevanz der eigenen Positionen deutlich zu machen.
Denn immer noch werden die Aktivisten gern vor allem als „Abtreibungsgegner“ betrachtet – obwohl in diesem Fall die Selbstbezeichnung „Pro Life“ die zutreffendere Beschreibung wäre: Zum einen machen sie deutlich, dass nicht bloß Abtreibung verhindert werden, sondern eine „Kultur des Lebens“ geschaffen werden soll, eine „Willkommenskultur für Ungeborene“, wie es ein Slogan des Marsches besagt. Diese umfasst auch Müttergesundheit, psychische, medizinische, soziale und finanzielle Unterstützung für Frauen im Schwangerschaftskonflikt sowie ein kinder-, familien- und frauenfreundliches gesellschaftliches Klima.
Das wird auch an den Rednern deutlich, die im Rahmen der Auftaktveranstaltung geladen sind. Unter anderem soll eine Hebamme zu Wort kommen, die aus der Praxis berichtet; ein weiterer Fokus wird über das Programm „Teenstar“ auf zeitgemäße Sexualpädagogik gelegt. Ein weithin ignoriertes Thema, während LGBTQ-Vereine in Schulen drängen. Dabei ist die Vermittlung entsprechenden Wissens nicht nur für verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Sexualität wichtig, sondern auch für Bindungsfähigkeit, Familiengründung und für das seelische und körperliche Wohlbefinden. Welche Auswirkungen Frühsexualisierung, frühe Konfrontation mit Pornographie und Indoktrination durch LGBTQ-Aktivismus (insbesondere im Hinblick auf die Reduktion von Sexualität auf Lustbefriedigung) haben, wird noch vollkommen unterschätzt.
Es ist fahrlässig, solche Themen als Randthemen zu betrachten. Dennoch überlässt man es Lebensrechtlern, Analysen vorzunehmen und Strategien zu entwickeln – während Pro-Abtreibungs-Lobbyisten sich auf Worthülsen wie Selbstbestimmung und Emanzipation kaprizieren, und in Abtreibung die Lösung für gesellschaftliche Probleme sehen, die dadurch gar nicht behoben werden.
Hinzu kommt angesichts der Normalisierung von Euthanasie in Europa die Erosion des Schutzes alter, behinderter und schwerkranker Menschen. Initiatoren und Teilnehmer des Marsches wenden sich gegen die Tendenz, Mediziner mit der Tötung Leidender zu betrauen: So fordert der Marsch für das Leben die „Beibehaltung der uneingeschränkten Gewissensfreiheit“ der Mediziner, und „eine Medizinethik, die auf Heilung, Schmerzlinderung und palliative Versorgung setzt, nicht auf die gezielte Beendigung des Lebens“.
Es sticht hervor, dass die Lebensrechtler nicht auf Emotionalisierung, sondern auf Versachlichung setzen. Das zeigen ihre Forderungen, die konstruktiv und konkret sind: zum Beispiel umfassendere Ursachenforschung in Sachen Abtreibung, Förderung von Suizidprävention und konsequenter Ausbau der Palliativmedizin.
Auch die Bundesvorsitzende des BVL, Alexandra Linder, hebt hervor, der Marsch sei „sachlich und (…) frei von Diffamierungen Andersdenkender“. Im Podcast „Himmelklar“ betont sie den Wunsch, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Das ist vor allem im Hinblick auf das zweite Ereignis bedeutsam, unter dessen Schatten der Marsch für das Leben in diesem Jahr steht: die Ermordung Charlie Kirks. Der christliche konservative Polit-Aktivist sprach über zahlreiche Themen – der kompromisslose Schutz des Lebens war darunter aber immer wieder ein zentraler Aspekt, für den er mit dem für radikale Linke typischen Furor dämonisiert wurde.
Kirk trat ebenfalls für Dialog ein. Mit seiner Ermordung wurde ein Schlaglicht auf die innere Verfasstheit vieler Linker geworfen, die im Zuge ihrer Radikalisierung nicht einmal mehr den Anschein von Toleranz aufrechterhalten können.
Gegner der freien Auseinandersetzung nehmen auch den Marsch für das Leben ins Visier. Während die Berliner Polizei, gestählt im Umgang mit Linksextremismus, den Marsch für das Leben effizient abschirmt und die Teilnehmer – darunter viele Jugendliche und Familien mit Kindern – vor Übergriffen durch Gegendemonstranten schützt, wurde vor allem der erste Marsch für das Leben in Köln zum Fiasko für die Stadt, deren Oberbürgermeisterin sich zuvor mit den linksradikalen Gegendemonstranten solidarisiert hatte und deren Ordnungskräfte überfordert waren. „Die ersten beiden Jahre in Köln waren brutal“, bilanziert Cullen. „Es gab offene Gewalt gegen Teilnehmer.“
Er rechnet nach dem Scheitern der Abschaffung des Paragraphen §218 und der Verhinderung der Wahl Brosius-Gersdorfs mit noch aggressiveren Gegenprotesten.
Und tatsächlich macht das „Bündnis Pro Choice“, das verschiedene linksradikale und feministische Gruppierungen umfasst, gegen den Marsch mobil. Auf seinem Instagram-Account gibt das Bündnis Tipps, wie man die Veranstalter sabotieren kann – etwa indem man einen Platz in einem vom Marsch organisierten Bus buchen solle, um den Platz so zu blockieren. Kleingeistige Aktionen, die aggressive Agitation flankieren. Denn das Motto ist: den „Marsch für das Leben verhindern“.
Es wird nicht einmal versucht, die illiberale, intolerante Natur der eigenen Position zu kaschieren. Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden angegriffen, vor Gewalt gegen Menschen nicht zurückgeschreckt, obwohl die Anliegen, für die hier demonstriert wird, den Schutz jener Voraussetzungen zum Ziel haben, die das Bestehen einer zivilisierten, humanen Gesellschaft gewährleisten.
Auch wer in Detailfragen anderer Meinung ist, könnte in der sachorientierten Debatte feststellen, dass man etwa das Anliegen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, teilt – und könnte darüber diskutieren, wie dieses Ziel besser zu erreichen wäre. Solchem Dialog aber wollen sich radikale Abtreibungsbefürworter nicht stellen.
Das wirft die Frage auf, wie lange die Allianz zwischen Mainstream-Medien, linker Politik und linksradikalen Abtreibungsbefürwortern aufrechterhalten werden kann. Der Mord an Charlie Kirk hat die Profile gesellschaftlicher Gruppen klar hervortreten lassen – wer kompromisslos gegen Gewalt und für Dialog eintritt, und wer nicht.
Je ungenierter Gegner des Marsches für das Leben ihre Gewaltaffinität zur Schau stellen, desto unglaubwürdiger wird die Erzählung einer Linken, die nach Toleranz, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung strebt.