
„Also um Ihre Frage klar zu beantworten: Wenn es keinen Koalitionspartner gibt, der da mitgeht – dann können wir halt nicht regieren! Es geht hier um die Sache!“, sagt Carsten Linnemann im Welt-Fernsehen. Es ist Januar, gerade ereignete sich der Doppel-Messermord von Aschaffenburg, der den Wahlkampf veränderte. Das merkt auch Linnemann. Er und sein Chef Friedrich Merz wollen zu diesem Zeitpunkt alles tun, um eine glaubwürdige, politische Alternative zur Ampel darzustellen. Das Bollwerk für den „Politikwechsel“, der in den Augen der Menschen überfällig ist.
Dafür steht Linnemann wie kein zweiter in der Union. Und während Merz wenig später schon beginnt, sich auf den Bruch von Wahlversprechen vorzubereiten, sitzt sein Generalsekretär in jeder Talkshow, jeder Live-Sendung, die ihn haben möchte und singt sein Lied vom Politikwechsel. Insbesondere bei Wirtschaft und Migration. Viele glauben ihm, im konservativen Teil der Union erfreut er sich höchster Beliebtheit.
Zeitsprung in den April: Carsten Linnemann steht, fast schon symbolisch, vor einer Trauerweide. „Wir haben in den letzten drei Jahren hart daran gearbeitet, unsere CDU wieder aufzubauen“, erklärt er in einem Video. „Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich will ihn fortsetzen. Es braucht eine starke CDU, um den Politikwechsel in Deutschland umzusetzen.“
Damit gibt er bekannt, nicht ins Kabinett Merz einzutreten. Eigentlich hatte jeder in Berlin Linnemann schon als Wirtschaftsminister gesehen – nun bleibt er Generalsekretär, um den „Politikwechsel umzusetzen“. Was kaum verhohlen bedeutet: Im Kabinett wird man ihn nicht umsetzen können.
In konservativen CDU-Kreisen ist Linnemann hoch angesehen, am Dienstagmittag hört man nichts als lobende Worte für seine Ankündigung und seine angenommenen Motive. Er mache es aus Überzeugung, sagen manche Kenner, andere in der Partei feiern ihn für diese Entscheidung als integer und ehrlich.
In der Tat: Dass ein Spitzenpolitiker auf einen Kabinettsposten verzichtet, ist selten. Gerade Generalsekretäre machten oft genug den Sprung vom Partei- zum Regierungsjob. Linnemann verzichtet ganz bewusst darauf – nach allem, was man hört, im Einvernehmen mit Friedrich Merz. Für den ist Linnemanns Schritt dennoch die vielleicht größtmögliche Ohrfeige.
Linnemann energetisierte die CDU regelrecht. Als er 2023 als Generalsekretär auf den unglücklichen Mario Czaja nachfolgt, herrschte gerade bei Konservativen Hochstimmung. Linnemann gilt vor allem als Wirtschaftsliberaler, leitete acht Jahre lang den entsprechenden Flügel der Partei, die Mittelstands- und Wirtschaftsunion. Aber er ist auch konservativ, traut sich, auch kontroverse Debatten anzustoßen – etwa zur Migrationspolitik – und auszuhalten. Dass er nicht in Merz‘ Kabinett eintritt, ist ein vernichtendes Zeugnis.
In einer Partei, die die letzten Jahre sonst eher vom müden Konsens und profillosem Zentrismus geprägt war, trumpft ein Linnemann auf. Er traut sich was, setzt Standpunkte, begeistert die Partei. Wer ihn sprechen hört, ob vor Wirtschaftsleuten, Parteimitgliedern oder Journalisten, merkt, wie sehr er vor Energie sprüht. Oder eher: Sprühte.
Denn im April erlebt man einen ganz anderen Linnemann. Auch, wenn er das gleiche wie immer sagt. Der Politikwechsel komme jetzt und stehe im Koalitionsvertrag, versichert er im Bericht aus Berlin der ARD. Nur: Er scheint es selbst nicht zu glauben. Er klingt müde, matt, fast meint man ihm eine Abscheu vor dem eigenen Auftritt anzumerken. Öffentlich tritt er merklich weniger in Erscheinung. Mit dem „einfach mal machen“-Linnemann, der mit kraftvollen und beherzten Ansagen von sich reden macht, hat dieser Mann nichts mehr zu tun.
Das hängt mit persönlicher Enttäuschung zusammen – auch gegenüber Friedrich Merz. Das Verhältnis von beiden soll sich stark abgekühlt haben, berichtet Welt unter Berufung auf Parteikreise. Beide streiten das ab. Doch das Nachgeben von Merz gerade in Wirtschafts- und Finanzfragen gegenüber der SPD irritierte Linnemann wohl sehr – zurecht.
Denn auch seine Glaubwürdigkeit ist dadurch stark beschädigt worden. Linnemann war der Lautsprecher für den „Politikwechsel“ schlechthin. Schon der Begriff ist seine Schöpfung, er führte und richtete den ganzen Wahlkampf nach dieser Parole aus. Jetzt meinen viele: Auch Linnemann hat den Leuten Blech erzählt. Dabei war er einer der letzten, in den auch CDU-kritische Konservative in den letzten Jahren noch ihre Hoffnungen setzten.
Dazu kam die Postenfrage: Linnemann wollte Arbeitsminister werden, hörte man seit geraumer Zeit aus Berlin. Er verhandelte auch den entsprechenden Themenbereich mit. Am Ende aber schenkte sein Chef dieses Ministerium einfach weg – und zwar in einem kurzen Moment, in dem Linnemann keinen Widerstand leisten konnte. Die SPD wollte die Zuständigkeit für das Ressort Arbeit unbedingt halten – und Merz gab nach. In Verhandlerkreisen geht die Anekdote um, dass Merz schließlich einknickte, als Linnemann kurz den Raum verlassen hatte – er war „sich schnell eine Cola light holen“, wie einer der Verhandler Welt erzählt. Als er wiederkam, war der Traum vom Amt geplatzt.
Wer eine wirkliche „Wirtschaftswende“ will, findet im Arbeits- und Sozialministerium die tatsächliche Macht – ein Großteil des Bundeshaushaltes wird dort verwaltet, die wirklich wichtigen Weichenstellungen für die Wirtschaft finden eher hier als im Wirtschaftsministerium statt. Dass Merz hier aufgab, weil er wohl mal wieder in den Verhandlungen zu schwach war, dürfte Linnemann nachhaltig irritiert haben. War es doch das letzte Signal, dass der „Politikwechsel“ wie auch die „Wirtschaftswende“ offenbar nicht mehr Merz‘ höchste Prioritäten sind.
Linnemann hat nicht vor, sich im personell und inhaltlich stark sozialdemokratisch geprägten Merz-Kabinett politisch zu verbrennen – das ist auch Machttaktik. Und für die CDU ein Segen, ein letzter Strohhalm, an den man sich klammern kann. Man legt ihm das als Zeichen von Integrität aus – etwas, was Friedrich Merz ganz eindeutig fehlt. Schon nach dem Bekanntwerden des Koalitionsvertrages hörte man aus der Union bei den bisherigen Merz-Anhängern tiefe Resignation. Und den Satz: Jetzt müssen wir auf Linnemann hoffen. Der jedoch steht jetzt vor einem schwierigen Spagat.
Dass er nicht ins Kabinett geht, ist ein Zeichen für seine persönliche Frustration mit dem schwarz-roten Politikkurs. Als Generalsekretär kann er seinem Parteichef und Bundeskanzler jedoch nicht ständig in die Parade fahren und sich als Gegenstimme zur Koalitionspolitik positionieren – auch in diesem Amt wird er zumindest den Grundkurs dieser CDU-geführten Regierung vertreten müssen. Die Frage seiner Glaubwürdigkeit wird sich in diesem fast unmöglichen Spagat entscheiden.
Gleichzeitig hat er im Amt des Generalsekretärs auch Chancen, vor allem im Angesicht eines schwachen Kanzlers und Parteichefs wie Friedrich Merz. Der wird als Regierungschef ohnehin alle Hände voll zu tun haben – Linnemann könnte daher fast zu so etwas wie einem Statthalter in der CDU avancieren. In der Partei hofft man, dass der beherzte Politiker die CDU wieder aufrichtet, die Basis hört und beruhigt. Nur: Jede fromme Rede von Linnemann wird verhallen, wenn Merz in Berlin die gegenteilige Politik macht. Er müsste sich schon klar positionieren.
Die CDU als Partei soll kein „Anhängsel“ des Kanzleramtes sein, wie es unter Merkel der Fall war, heißt es in der Partei. Dafür wird vor allem Linnemann sorgen müssen. Doch wie viel Distanz kann er wagen, wenn er den Bruch mit Merz nicht möchte? Wahrscheinlich zu wenig, um Schaden von der eigenen Glaubwürdigkeit abzuwenden. Dass Linnemann zum Brutus wird, der Merz politisch erdolcht, daran glaubt keiner so wirklich. Es wäre auch nicht sein Stil. Aber: mit inzwischen hohlen Phrasen über den „Politikwechsel“ allein wird Carsten Linnemann die Partei nicht beruhigen können.