
So sehr die Deutschen von der literarischen Welt der Spione fasziniert sind, so bemerkenswert desinteressiert sind sie an ihrem eigenen Auslandsnachrichtendienst. Kaum einer, der die Abenteuer eines fiktiven britischen Agenten auf der Leinwand gebannt verfolgt, wird sich für die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes (BND) aufrichtig begeistern können.
Der verschwiegensten Behörde Deutschlands mangelt es am virilen Glamour rasend schneller Fahrzeuge und dem ironischen Geschmack eines eisgekühlten Martinis auf polyglotter Zunge. Auch an öffentlichkeitswirksamen Actionszenen fehlt es. Letzteres ist im Lichte des Budgets von etwa einer Milliarde Euro – das entspricht dem Einspielergebnis von „Skyfall“ – allerdings mehr als angemessen.
Den geneigten Leser überrascht es also nicht, dass auch der scheidende BND-Präsident den meisten Bürgern ein Unbekannter ist. Sein Name ist Kahl, Bruno Kahl. Jener verlässt den Nachrichtendienst, wie er ihn geführt hat: diskret, nüchtern und mit wenigen, sorgfältig platzierten Interviews. Bei einem solchen und erst kürzlich erfolgten Auftritt teilte Deutschlands Chefspion noch ein letztes Mal seine Einschätzungen zum Kreml und warnte vor möglichen Bedrohungsszenarien. „Wir sind sehr sicher und haben dafür auch nachrichtendienstliche Belege, dass die Ukraine nur ein Schritt auf dem Weg nach Westen ist“, so Kahl im Podcast von Table.Briefings.
Das sind – für BND-Verhältnisse – gleichermaßen deutliche wie selten öffentliche Worte. Nicht zuletzt dieser Bestimmtheit wegen sind fragende Blicke angebracht: War es nicht der Bundesnachrichtendienst, der im Zentrum einer in Berlin fehlenden „strategischen Frühwarnkultur“ steht, wie es Wolfgang Ischinger einmal formulierte? Auch der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, kritisierte die fehlende Fähigkeit hiesiger Institutionen, sich in die Denkweise autoritärer Gegner zu versetzen. Zu guter Letzt thematisierten auch Medien aller Couleur die Sicherheitsbehörden stets, hier und da realpolitische Wahrscheinlichkeiten zugunsten politischer Bequemlichkeit auszublenden, während andere immer wieder vor Seilschaften zwischen dem BND und konkurrierenden Staaten warnen.
Wolfgang Ischinger sprach von einer „strategischen Frühwarnkultur“.
Schwerlich zu ignorieren ist, dass der Bundesnachrichtendienst außenpolitischen Bedrohungslagen in der Vergangenheit oft hinterherzuhinken schien – wie weit man ein vermeintliches oder tatsächliches Versagen sattelfest attestieren kann, ist angesichts der obskuren Natur des Nachrichtenwesens ohnehin offen. Erfolge dringen in dieser Branche grundsätzlich seltener an die Öffentlichkeit als Fehlschläge, da sie sich in der realen Welt nicht über die Kinokassen refinanzieren. Als sicher gilt jedoch, dass der BND – anders als Mossad, CIA, KGB und MI6 – nicht von einem Nimbus der kühlen Kompetenz umgeben ist. Im kollektiven Gedächtnis verblieben eher die Missgeschicke – angefangen vom Schock des innerdeutschen Mauerbaus über den hastigen Abzug aus Afghanistan, die plötzliche Invasion Russlands in der Ukraine und den für deutsche Dienste überraschenden „Wagner-Putsch“ des Jewgeni Prigoschin. Dass der BND seine Erkenntnisse überwiegend durch treusorgende Tipps befreundeter Geheimdienste statt durch eigenständige Auslandsaufklärung und Analyse gewinnt, gilt inzwischen als Laienwissen.
In der Binnenlogik des deutschen Beamtenapparates, stets eingehegt durch eine für eine weltweit einmalige verfassungsgerichtliche Rechtsprechung, ist dieser Befund nicht überraschend. James Bond hat die Lizenz zum Töten, der BND hat die Lizenz zum Zögern.
Allerdings ließe sich trefflich argumentieren, dass auch ein formidabel ausgestatteter Geheimdienst nach umfassender Novellierung des BND-Gesetzes nur so gut sein könnte, wie das Primat der Politik es ihm gestattet. Analog zu den Domänen der Bundeswehr und der Polizei gilt, dass selbst die besten Spione und Analysten der Welt vergebens arbeiten, wenn Politiker nicht auf sie hören. Das dürfte einerseits dazu beigetragen haben, dass leitende Funktionäre des BND mit Vorliebe äußern, was Politiker wahrzunehmen bereit sind. Andererseits stellt es einen Anlass dar, Menschen wie Bruno Kahl aufmerksam zu lauschen:
„In Moskau gibt es Leute, die glauben nicht mehr, dass Artikel 5 der NATO funktioniert. Und sie würden das gerne testen.“
Das ist mehr als eine markante Aussage, sondern eine veritable Diagnose. Kahl benennt damit das strategische Kernproblem Europas im Jahr 2025: den schleichenden, aber lange angekündigten Verlust der Abschreckungskraft. Die eigentliche intellektuelle Leistung liegt dabei zuvörderst in einer vorsichtigen Rückkehr zum geopolitischen Denken an sich – der Vorbedingung jeder nachrichtendienstlichen Analyse. Sich in die Absichten und Vorstellungswelt, Mittel und Möglichkeiten eines anderen Staates hineinzuversetzen – Fachleute nennen das „Red Teaming“ – ist neben der Gewinnung von Informationen und der Durchführung extraterritorialer Operationen die Kernaufgabe eines Nachrichtendienstes. Dafür ist es nicht einmal notwendig, den untersuchten Akteur zu dämonisieren oder dessen Gemeinheiten zu abstrahieren – es ist im Gegenteil sogar hinderlich.
Plant Wladimir Putin einen Angriff auf NATO-Gebiet?
Dass Russlands Führung ein Interesse daran hat, das westliche Bündnisgefüge auszuhöhlen, ist keine gewagte These, sondern selbstverständliche geopolitische Realität. Das Ziel, Amerika langfristig aus Europa zu verdrängen, wurde im Kreml jahrelang offen kommuniziert. Und die Versuchung, das Verteidigungsversprechen der NATO in der Praxis zu testen – in einem grau zonierten Raum zwischen hybrider Einflussnahme und konventioneller Provokation – ist aus russischer Sicht plausibel. Insofern ist es Kahls Verdienst, in seinen letzten öffentlichen Aussagen genau darauf hinzuweisen. Denn es war der BND, der im Vorfeld der russischen Invasion 2022 eben nicht mit dieser Entschlossenheit gewarnt und die Warnungen amerikanischer Dienste ignoriert hatte. Nun reicht er eine strategische Kurskorrektur nach. Dabei zielt Russland im Besonderen auf den postsowjetischen Raum, den es als militärische, kulturelle und politische Pufferzone zu Westeuropa begreift. Das Betriebssystem westeuropäischer EU-Staaten – Vertrauen auf die Verrechtlichung internationaler Beziehungen und Globalisierung bei selbstverordneter Kraftlosigkeit – wird hier existenziell infrage gestellt, nicht aber die eigentliche militärische Sicherheit deutscher Großstädte, wie es manche Kommentatoren gerne aus ideologischen Gründen suggerieren.
So richtig Kahl in der Analyse des russischen Revisionswillens liegt, so angreifbar wird er, wenn er über das operative Kräftemessen zwischen Kiew und Moskau spricht. „Natürlich ist der Umfang und die Qualität westlicher Unterstützung maßgeblich“, sagt er und impliziert damit, die Ukraine könne den Krieg mit ausreichender Hilfe tatsächlich gewinnen.
Das ist ein tröstlicher Gedanke – auch angesichts der Gnadenlosigkeit, mit der das russische Militär nicht nur an Pfingsten und Ostern die ukrainische Zivilbevölkerung anvisiert. Doch es ist auch ein irreführender. Militärisch ist die Ausgangslage asymmetrisch. Russland, trotz seiner Defizite und Verluste, bleibt ein Staat mit gewaltigen Reserven an Material, Personal und Eskalationspotenzial – inklusive einer strategischen, einschließlich nuklearer Drohkulisse, der Europa nicht begegnen kann und vor allem will. Die Ukraine hingegen kämpft mit einer erschöpften Gesellschaft und einem schrumpfenden Rekrutierungspotenzial. Westliche Rüstungsunterstützung verlängert, ja ermöglicht überhaupt die Fähigkeit zur Verteidigung, doch sie täuscht nicht über die strategische Realität hinweg. Dabei fällt Kiew nicht unter den ohnehin auf tönernen Füßen stehenden Artikel 5 der NATO.
Selbst für die baltischen Staaten gilt, dass keine deutsche Brigade und kein europäischer Beitrag den Kreml im Zweifel von einer Eskalation abhalten dürfte – es ist der amerikanische Schutz, nicht die Selbstbehauptung der EU, die kleineren Nationen in Europa ihre Unabhängigkeit garantiert. Dies ist der Grund, warum die amerikanische Präsenz in Europa der eigentliche Stachel im Fleische russisch verstandener Selbstbehauptung ist. In politischer Tollheit scheinen dies manche politischen Kräfte auch in Deutschland, die sich als besonders kremlkritisch verstehen, zu vergessen. Die Mahnung des Bruno Kahl, Washington hätte mit seiner Forderung nach einem stärkeren europäischen Engagement „nicht Unrecht“, kann man als diplomatisch formulierten und in bester BND-Tradition gnadenlos verspäteten Weckruf verstehen.
Bruno Kahl beim Neujahrsempfang von Bundespräsident Steinmeier im Schloss Bellevue.
Die Hoffnung auf einen vollständigen Sieg Kiews jedoch führt letztlich zu einer unausgesprochenen Politik des „Immer weiter“ ohne Exitstrategie. Hier hätte man vom Chef des deutschen Auslandsnachrichtendienstes Genaueres hören wollen. Etwa darüber, wie ein realpolitisches Kriegsziel aussehen könnte, dem sich alle drei Teile des Westens – die Ukraine, Europa und Amerika – anschließen könnten. Mehr noch: Eine behutsame, aber fundierte Kritik an der politischen Ebene und dem nachvollziehbar schwindenden Selbstbehauptungswillen der Bevölkerung gehört zur strategischen Analyse dazu.
Die rhetorische Verlagerung des Krieges nach Mitteleuropa jedenfalls mag im Sinne der unkoordinierten Abschreckung verständlich sein, doch sie ist analytisch eine Überdehnung. Sie ersetzt die notwendige Debatte über europäische, durchaus auch deutsche strategische Eigenverantwortung durch diffuse Alarmismen. Auch das unterscheidet die nachrichtendienstliche Realität vom großen Kino, in dem zunehmend nicht nur England, sondern immer öfter gleich die ganze Welt gerettet werden musste.
Aus der Erfahrung des Bundesnachrichtendienstes wie auch der Bundeswehr und anderer Akteure lässt sich eine eindeutige Strategie ableiten: Deutschland muss – zumindest vorläufig – nach einem Präsidenten Trump den Goldfinger ausstrecken. Auch dann, wenn der gerne die ganze Hand nimmt. Diese Konstellation ist für die Sicherheit des Landes immer noch besser als die vergifteten Liebesgrüße aus Moskau.
Für den alles in allem verdienten Karrierebeamten Bruno Kahl geht es nun aber erst einmal nach Rom. Dort wird er sich als deutscher Botschafter im Vatikan und als bekennender Katholik dem wahrlich größten Geheimnis seiner geheimdienstlichen Karriere nähern dürfen. Monumentaler als „Skyfall“ ist eben nur die Himmelfahrt.
***Chris Becker ist ehemaliger Offizier der Luftwaffe, Reservist, Berater und als freier Autor für verschiedene Medien tätig.
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