Massaker in Syrien: Der Westen sieht weg, während Dschihadisten morden

vor etwa 2 Monaten

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Bildquelle: Tichys Einblick

Es war ein absehbarer Terror, der Syrien seit wenigen Tagen im Griff hat. TE hatte früh die Jubelrufe über den Sturz von Baschar al-Assad kritisiert – sein Ende würde die Situation im krisengeschüttelten Land nicht verbessern, sondern unübersichtlicher machen. Massenmedien und Politiker nährten die Illusion, dass nun Frieden nach Syrien zurückkehren würde. Die unangenehmen Details – etwa, dass die neue Regierung in Damaskus aus Dschihadisten bestand – wurden ausgeklammert. Nach der Vertreibung des russlandfreundlichen Assad waren es schließlich „unsere“ Dschihadisten.

Dass der Westen unter ähnlichen Konstellationen bereits mit den afghanischen Widerstandskämpfern gegen die Sowjetinvasion sympathisierte – zu denen auch der Gotteskrieger Osama bin Laden zählte –, ist im Kurzzeitgedächtnis vieler Politiker und Journalisten längst verblasst. Der Unterschied zwischen Realpolitik und Zynismus liegt darin, dass erstere trotz fehlender Moral langfristigen politischen Strategien folgt. Eine solche langfristige Politik lassen Europa und die USA in Syrien ebenso vermissen, wie es in Afghanistan, dem Irak und Libyen der Fall war.

Bereits im Irak war es in erster Linie die christliche Gemeinde, die unter dem Sturz Saddam Husseins litt – übrigens ebenfalls ein vom Westen zunächst gegen den Iran protegierter Staatschef, der später in Ungnade fiel. Ähnlich wie das syrische Regime des Alawiten Assad führte der Sunnit Hussein ein Land, in dem die politische Elite eine ethnisch-religiöse Minderheit stellte. Die säkular-nationalen Regime förderten bewusst eine sozialistisch geprägte Ideologie, um ethnische, religiöse und tribalistische Elemente zu eliminieren und die eigene Minderheitenherrschaft zu stabilisieren.

Es ist kein Zufall, dass einer der wichtigsten Berater Saddam Husseins sein Außenminister Tariq Aziz war – ein Angehöriger der chaldäischen Kirche, die mit der römisch-katholischen Kirche uniert ist. Solche Karrieren waren in den panarabisch-säkularen Regimen der Nachkriegszeit noch möglich. Doch mit der Hinwendung zum Islam gewann der sunnitisch-schiitische Gegensatz an Gewicht. Dort, wo islamistische Bewegungen an die Macht gelangten, folgte in den meisten Fällen eine „Bereinigung“: Demografisch heterogene Staaten sollten homogenisiert werden. Oder deutlicher: gesäubert.

Die Geschichte kennt zahlreiche Beispiele, in denen einst herrschende Minderheiten nach ihrem Sturz brutal verfolgt wurden. Neben der spezifisch islamistischen Säuberung tritt das Motiv der politisch-ethnischen Säuberung hinzu. Beides betrifft die Alawiten in Syrien, die als schiitische Abspaltung von vielen sunnitischen Gelehrten als häretisch oder gar unislamisch gebrandmarkt werden. Die prominenteste alawitische Familie ist die Assad-Familie, die in den 1960er Jahren über das alawitisch geprägte syrische Militär an die Macht gelangte.

Westliche Medien und Politiker haben daher fast kritiklos die Propaganda übernommen, in der Küstenregion von Latakia und Tartus – dem Kernland der Alawiten – hätte man Widerständler, unbelehrbare Assad-Anhänger und Feinde der neuen Ordnung niedergeschlagen. Dieses Narrativ entspricht der sunnitischen Wahrnehmung: Alawiten sind per se Verräter, und wer sich gegen die neue Regierung stellt, muss ein Assad-Anhänger sein. Wenig verwunderlich, dass solche Narrative unkritisch übernommen werden, denn sie weisen Parallelen zum bestehenden Freund-Feind-Schema westlicher Politik auf – in dem jede Kritik an der Regierung als Angriff auf die staatliche Integrität verstanden wird und folglich nur von „Demokratiefeinden“ stammen kann.

Dass sich Reste Assad-loyaler Milizen erhoben haben, ist nicht von der Hand zu weisen – dass sie zum Anlass genommen wurden, um gegen die ganze unliebsame Minderheit der Alawiten vorzugehen, ist jedoch unstrittig. Dass zudem Christen massakriert werden, kann wohl kaum mit militärischen Kollateralschäden erklärt werden.

Dabei ist das Drehbuch durchschaubar. Die Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die als Nachfolgerin der islamistisch-dschihadistischen Al-Nusra-Front die Macht in Damaskus errungen hat, musste diese zunächst absichern. Sie bot dem Westen das, was er hören wollte: Männer im Anzug, die sich als Pragmatiker präsentierten. Dass die deutsche Außenministerin bei ihrem Besuch verpixelt wurde, sorgte für hochgezogene Augenbrauen – aber nicht für Konsequenzen. Europa signalisierte Unterstützung. Damit sicherte es jene Despoten ab, die mit türkischer Hilfe in den Sattel gehoben wurden. Dass Ankara keinen Hehl aus seiner Unterstützung für Islamisten macht, ist bekannt. Syrien ist de facto zu einem türkischen Frontstaat geworden.

Der Wolf fühlt sich nun sicher. Er braucht keine Kreide mehr.

Dass westliche Medien davor zurückschrecken, die Massaker an Alawiten und Christen zu benennen, liegt nicht zuletzt an ihrer eigenen Mitverantwortung. Sie und die Politik haben die Islamisten salonfähig machen wollen. Um im Wahlkampf populistisch zu punkten, behauptete ein CDU-Politiker sogar, man könne nun Charterflüge nach Syrien mit Rückkehrern füllen – es gebe schließlich keinen Fluchtgrund mehr. Der Krieg sei vorbei.

Das Gegenteil ist richtig: Jetzt beginnt das Schlachten mit Ansage.

Nach dem, was Kontaktleute vor Ort schildern, ist das Ausmaß der Gräueltaten größer, als es bisher durchsickert. Die Abläufe stellt die christliche Hilfsorganisation Christian Solidarity International (CSI) so dar:

Die Regierung rief Freiwillige zur Mobilisierung auf, und in Städten in ganz Syrien riefen Moscheen zum Dschihad in der Küstenregion auf. Am 7. März begannen die Massaker.

Drei Tage lang griffen bewaffnete Kämpfer in den Provinzen Latakia und Tartus alawitische Dörfer an, trieben Männer – und manchmal auch Frauen und Kinder – zusammen und exekutierten sie. Im Dorf Tuwaym wurden am 8. März 31 Menschen in einem Massengrab beigesetzt, darunter neun Kinder und vier Frauen.

In größeren Städten wie Baniyas, wo Sunniten, Christen und Alawiten zusammenleben, berichten zahlreiche Quellen, dass regierungstreue Kämpfer Wohngebäude betraten und von Tür zu Tür gingen. Sie forderten die Bewohner auf: „Was ist deine Konfession? Was ist deine Religion?“ Alawitische Männer und manchmal ganze Familien wurden getötet.

Zu den Toten gehören eine Mutter und zwei Brüder der Familie Sadeq, die in Baniyas für ihre Opposition gegen das Assad-Regime bekannt waren.

Ein alawitischer Mann in der Stadt Jableh erzählte dem Journalisten Georges Malbrunot von der französischen Zeitung Le Figaro, dass seine Familie von ihren sunnitischen Nachbarn gerettet wurde. Als die bewaffneten Kämpfer ihr Wohnhaus erreichten, behaupteten die Nachbarn, dass alle Bewohner Sunniten seien.

Dutzende verstörende Videos, die von regierungstreuen Kämpfern gefilmt und in sozialen Medien verbreitet wurden, zeigen die massenhafte Exekution von Alawiten – in einem Fall wurden die Opfer gezwungen, auf allen Vieren zu kriechen und wie Hunde zu heulen, bevor sie getötet wurden.

Die Schätzungen über die Zahl der Todesopfer reichen von über 700 bis in die Tausende. Am 8. März veröffentlichte ein Journalist eine Liste mit 717 alawitischen Zivilisten, die in den vorangegangenen zwei Tagen getötet worden waren.

Eine der Personen, die offenbar an den Angriffen beteiligt waren, ist ein Kommandeur namens Abu Amsha, ein Anführer der „Syrischen Nationalarmee“, einer von der Türkei gegründeten und finanzierten Rebellengruppe. Abu Amsha wurde kürzlich zum Brigadekommandeur in der neuen syrischen Armee ernannt.

In einer Ansprache an seine Männer vor dem Angriff auf die Küstenregion erklärte er: „Syrien wird sunnitisch sein, oder wir werden es niederbrennen.“

Die überwiegende Mehrheit der getöteten Zivilisten sind Alawiten. Doch auch einige Christen wurden ermordet, darunter Antoine und Fadi Boutros, ein armenischer Vater und sein Sohn, die in der Stadt Latakia erschossen wurden.

Adnan Hassan, ein Alawit, der seit langem wegen seiner Opposition gegen das Assad-Regime im französischen Exil lebt, berichtete, dass am 7. März der Ehemann seiner Nichte in seinem Wohnhaus in Baniyas erschossen wurde. Alle anderen alawitischen Männer sowie ein christlicher Mann, die im Gebäude lebten, wurden ebenfalls getötet. Nur der sunnitische Muslim wurde verschont.

Der Chef von CSI, John Eibner, äußerte sich folgendermaßen: „Die westlichen Unterstützer der islamistischen Diktatur al-Sharaa haben weder eine internationale Untersuchung der Massaker gefordert noch das verantwortliche Regime verurteilt. Sie scheinen damit zufrieden zu sein, dass die Täter sich selbst untersuchen.“ In einem Augenzeugenbericht, der CSI vorliegt, ist außerdem zu lesen:

Die Alawiten an der syrischen Küste werden seit zwei Tagen von den Banden des herrschenden Regimes einem Völkermord und einer ethnischen Säuberung unterworfen. Die Zahl der Opfer liegt bei über 4000, und es werden immer noch Massaker an Alawiten verübt. Tausende sind in den Bergen und versuchen zu fliehen, andere sind auf dem Meer, aber wohin? Es gibt für sie keine Möglichkeit zu überleben. Die Angreifer töten kaltblütig und ohne Unterschied Frauen, Kinder und alte Menschen. Sie haben Häuser, Geschäfte und Autos geplündert, und nichts ist verschont geblieben.

Bitte helfen Sie, die internationale Gemeinschaft zu mobilisieren, damit das Blutvergießen in Syrien endet, besonders an der Küste, bitte zögern Sie nicht! Die Situation ist sehr tragisch.

Die Leichen der Menschen, die auf den Straßen liegen, sind Alawiten, sie sind auch unsere Brüder. Es gibt auch viele Christen, die getötet wurden. Wir können diese Realität nicht akzeptieren.

Die Täter sind Kämpfer der Hayat Tahrir al-Sham und angeschlossener Gruppen. Unter ihnen sind viele Ausländer: Aus Aserbaidschan, Tschetschenien und aus vielen anderen Ländern. Selbst der Staat hat angeblich keine Kontrolle über sie, wie al-Dscholani gestern sagte, dass es sich um unkontrollierte Gruppierungen handelt; aber wir wissen, dass sie mit seinem Segen arbeiten.

Frauen werden vor den Augen ihrer Kinder hingerichtet, ebenso die Kinder und alle anderen im Haus.

Wir beten in dieser heiligen Fastenzeit, dass unser Herr die Herzen aller für den Frieden, den Dialog, die Versöhnung und die Beendigung des Blutvergießens öffnet, wo immer es auch sein mag.

Die Zahl der Toten ist kaum zu beziffern. Ob es 4.000 sind, wie behauptet, ist schwer zu verifizieren. Frappierend sind jedoch die Unterschiede zwischen der offiziellen Berichterstattung und den Angaben von Kontaktleuten. Dass dabei auch ein Informationskrieg tobt, ist klar. Neben der drastischen Darstellung von Massakern und dem verhaltenen, pro-damaszenischen Gegenentwurf, gibt es in den Sozialen Medien sogar Personen, die gänzlich leugnen, dass es Gewalt gegen Andersgläubige gibt. Das gemeinsame Statement der verschiedenen christlichen Denominationen ist jedoch ein deutlicher Beleg, dass das Ausmaß der Gewalt von Staatsseite verharmlost wird. Auch „Kirche in Not“ spricht eindeutig von Massakern:

Eine Quelle von Kirche in Not (ACS) in Latakia bezeichnete den 7. März 2025 als einen „schwarzen und schmerzhaften Tag“ für Tartus, Banias, Jabla, Latakia und die umliegenden Dörfer, die von grausamen Massakern heimgesucht wurden. Als Reaktion auf einen Hinterhalt alawitischer Militanter, bei dem etwa 20 Mitglieder der neuen Sicherheitskräfte ums Leben kamen, griffen bewaffnete Gruppen wahllos an und verursachten über 600 Todesopfer, größtenteils Zivilisten. Unter den Getöteten befinden sich junge Menschen, Frauen, Ärzte, Apotheker und Mitglieder der christlichen Gemeinschaft, darunter ein evangelischer Vater und sein Sohn aus Latakia sowie der Vater eines Priesters in Banias.

Der grenzenlose Zynismus der europäischen Regierungen und der EU wird gekrönt von Darstellungen wie „blutigen Unruhen“ oder dem Aufruf, dass „beide Seiten“ die Gewalt einstellen sollten:

Klar dagegen kommuniziert das US State Department unter dem neuen Außenminister Marco Rubio, was in Syrien geschieht:

Die Vereinigten Staaten verurteilen die radikalen islamistischen Terroristen, darunter auch ausländische Dschihadisten, die in den letzten Tagen Menschen im Westen Syriens ermordet haben.

Die Vereinigten Staaten stehen an der Seite der religiösen und ethnischen Minderheiten Syriens, darunter der christlichen, drusischen, alawitischen und kurdischen Gemeinschaften, und sprechen den Opfern und ihren Familien ihr Beileid aus.

Die syrischen Übergangsbehörden müssen die Verantwortlichen dieser Massaker an Syriens Minderheiten zur Rechenschaft ziehen.

Auch Papst Franziskus, der wegen schwerer Krankheit seit Wochen in der römischen Gemelli-Klinik liegt, hat dazu aufgefordert, die Gewalt gegen Alawiten und Christen zu beenden. Wenn es für den todkranken Pontifex möglich ist, die dschihadistische Gewalt von Terroristen vor der Haustüre Europas gegen die ältesten christlichen Gemeinden der Welt zu verurteilen – warum fällt es dann den Europäern so schwer?

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