
Ein Jahr nach dem Sylt-Video hat die Wochenzeitung Zeit die damaligen Beteiligten erneut aufgesucht. Es wurde geklingelt, das Umfeld beobachtet, Wohnorte dokumentiert – obwohl die Justiz den Fall bereits abgeschlossen hatte. Neue Erkenntnisse liefert der Artikel kaum.
Im Mai 2024 sorgte ein Video von einer Gruppe junger Erwachsener auf Sylt für breite öffentliche Empörung. Sie sangen einen abgewandelten Liedtext zu dem bekannten 2000er-Partyhit „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino. Die Zeilen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ verbreiteten sich rasend schnell in sozialen Netzwerken.
Die Staatsanwaltschaft Flensburg nahm daraufhin Ermittlungen gegen vier Personen auf. Drei Verfahren wurden vor drei Wochen eingestellt, mit Verweis auf fehlende Belege für eine strafbare Volksverhetzung. Der Gesang, so die Einschätzung, bleibe eine „Meinungsäußerung“, gedeckt durch Artikel 5 des Grundgesetzes. Lediglich gegen den Mann mit der Armgeste wurde ein Strafbefehl wegen § 86a StGB erlassen. Er zahlte 2.500 Euro. Eine Vorstrafe liegt nicht vor.
Tatsächlich handelte es sich bei dem Lied um ein Internet-Meme, das bereits im Herbst 2023 im mecklenburg-vorpommerschen Bergholz kursierte. Auch dort filmten sich junge Männer mit der gleichen Parole, auch dort ermittelten Staatsanwaltschaften – mit gleichem Ergebnis: Einstellung der Verfahren.
Trotz des abgeschlossenen Verfahrens recherchierte die Zeit im Mai 2025 weiter. Der Artikel beschreibt Wohnorte, Beobachtungen an Haustüren, Reaktionen von Angehörigen. Ein Mann öffnet „in Boxershorts“ die Tür, er wirke „ein bisschen verschlafen“. Die Eltern eines anderen Mannes hätten „nicht einmal“ einen Brief entgegennehmen wollen, heißt es. Man sei zu dem Haus gefahren, in dem er heute wieder wohne.
Die Beteiligten werden telefonisch kontaktiert. „Ich würde Sie bitten, nicht mehr auf dieser Nummer anzurufen“, wird einer von ihnen zitiert. Die Betroffenen seien höflich, heißt es im Text. Niemand werde laut, niemand drohe. Die Reporterin beschreibt die Umgebung der Häuser, übermalte Graffiti („Sylter Nazi-Schwein“), fein gestutzter Rasen im Garten und Mini-Cabrio vor der Tür.
Die Redaktion zeichnet detailliert nach, wer heute wo lebt, wie sichtbar die Personen im Internet noch sind, was gelöscht wurde – und was es kostet, digital zu verschwinden. Viele der Beteiligten hätten ihre Social-Media-Profile gelöscht. Auch Google-Treffer seien kaum noch auffindbar.
Der Berliner Medienanwalt Norman Buse, der einen der Betroffenen vertritt, spricht von „massiven Anfeindungen“. Er beschreibt das Vorgehen gegen seine Mandanten als Doxing – also die gezielte Veröffentlichung privater Daten mit Schädigungsabsicht. In einzelnen Fällen laufen noch Verfahren gegen Medien – auch gegen die Zeit selbst. Einige waren am Geschehen gar nicht aktiv beteiligt, standen lediglich im Hintergrund des Videos – und wurden dennoch identifiziert und öffentlich benannt.
Die porträtierten Personen haben, wie auch der Zeit-Bericht festhält, bereits erhebliche Konsequenzen erfahren: Arbeitsplatzverluste, Exmatrikulationsverfahren, digitale Anfeindungen. Der neue Artikel liefert keine neuen inhaltlichen Befunde. „Verschwinden zu können, ist auch ein Privileg“, lautet seine einzige Erkenntnis.