Meinungsfreiheit ist der Rohstoff der Meinungsforschung

vor 16 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Obwohl Meinungsforschung aus dem Alltag der meisten Menschen nicht mehr wegzudenken ist, weil sie auch in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt Orientierung anbietet, besitzen doch die wenigsten Menschen eine Vorstellung davon, wie die Aussagen der Meinungsforscher zustande kommen, denn außer Fachliteratur existiert im populären Bereich kaum Aufklärung über dieses wichtige Thema. Empfehlenswert ist Binkerts Buch, das keine Selbstbeweihräucherung darstellt, auch deshalb, weil es sachlich, klug, ehrlich und im Stil elegant die terra incognita Meinungsforschung vermisst und zutreffend darstellt. Es bietet also nicht nur Aufklärung, sondern auch ein Lesevergnügen. Hinzu kommt, dass ich aus jahrelangem Umgang mit Meinungsforschung, insbesondere mit Wahlumfragen und der Sonntagsfrage, die Erfahrung gemacht habe, dass INSA von großer Verlässlichkeit ist und bisher in den Umfragen dem Wahlergebnis am nächsten kam. (Für den, der es nachprüfen will: das gilt auch für die Bundestagswahl am 25. Februar.)

Für Politiker wie Bürger, für Produzenten wie Konsumenten sind Meinungsumfragen so wichtig wie für Börsianer und Aktienanleger, ob privat oder institutionell, der Börsenindex, Dow Jones oder Dax. Meinungsumfragen bilden, wenn sie korrekt durchgeführt werden, die Wirklichkeit ab, zumindest bieten sie eine Momentaufnahme der Stimmungslage der Nation. Und um das Richtige zu tun, muss man das Richtige auch wissen.

Bleiben wir im Bereich der Politik. Meinungsumfragen, besonders, wenn es um die berühmte Sonntagsfrage geht, um die Beliebtheit von Politikern, um die Problemfelder, die für die Wähler am wichtigsten sind und darum, wie viel oder wie wenig die Bürger Vertrauen in die Regierung oder die politische Entwicklung haben, nehmen Einfluss auf die Politikplanung, auf die Taktik der Parteien, die Wahlen gewinnen und möglichst viele ihrer Funktionäre versorgen wollen. Meinungsumfragen beeinflussen überdies Wahlen, weil Wähler ihre Stimme nicht verschenken möchten.

Da aber nicht nur Politiker mit Meinungsumfragen Politik machen, was vollkommen legitim ist, sondern es auch Meinungsforscher gibt, die selbst mit ihren Umfragen Politik zu machen gedenken, was illegitim ist, ist es vor allem für die Wähler, für die Bürger schlechthin wichtig zu verstehen, was Meinungsumfragen sind, wie sie zustande kommen, was sie dürfen und was nicht, wenn sie Anspruch auf Seriosität erheben.

Die entscheidenden Fragen lauten, wie werden die Daten erhoben, welche Rolle spielt die Formulierung der Fragen und wie werden die Rohdaten aufbereitet. Lächerlich ist es beispielsweise, wenn Medien, um mit reißerischen Überschriften Aufmerksamkeit zu generieren, über große Verschiebungen in der Wählerpräferenz um 1% berichten, denn der Fehler- oder Toleranzbereich liegt gewöhnlich bei +1,5% und -1,5%, also die Verschiebung befindet sich innerhalb des Toleranzbereichs und reduziert sich auf eine oberflächliche Interpretation. Übrigens lösen die Artikel im Text selten diese Überschrift ein.

In drei Kapiteln: 1. Meinungsforschung, 2. Meinungsbildung, 3. Meinungsfreiheit geht Binkert logisch zwingend und methodisch dem Phänomen Meinungsforschung auf den Grund. Werden im ersten Kapitel die Möglichkeiten und Grenzen seriöser Meinungsforschung aufgezeigt und ihre Methoden offengelegt, werden im zweiten Kapitel Auftraggeber und Akteure institutionalisierter Meinungsbildung in ihrem Wirken vorgestellt. Dabei wird erstens die wichtige Unterscheidung zwischen öffentlicher Meinung und veröffentlichter Meinung getroffen und zweitens aufgezeigt, wie sich öffentliche und veröffentlichte Meinung bilden. Schließlich wird im dritten Kapitel aus der Sicht des Meinungsforschers die Grundlage jeglicher Meinungsforschung und das inzwischen auch von der Regierung und von herrschenden Eliten bedrohte Grundprinzip der Demokratie, die Meinungsfreiheit, dargestellt.

Ein Musterbeispiel für die geschickte Handhabung der veröffentlichten Meinung findet sich im Regierungsstil von Angela Merkel, für die die veröffentlichte Meinung den Maßstab ihres Handelns bildete, und zwar, was Binkert etwas vernachlässigt, in der Dialektik, dass sie zugleich von der veröffentlichten Meinung getrieben wurde, wie sie auch sehr bewusst auf die Formulierung der veröffentlichten Meinung Einfluss nahm, und so Treiber und Getriebene in einem war.

Aus der Sicht des Meinungsforschers ist Binkert jedoch zustimmen, wenn er resümiert: „Sechzehn Jahre war Angela Merkel Bundeskanzlerin. Sie hat es in dieser Zeit perfektioniert, so zu handeln, wie es die Mehrheit der Bürger vermeintlich wollte. Dabei übersah sie, dass viele Bürger zwar eine Meinung haben, aber von Politikern erwarten, dass sie das große Ganze im Blick haben und notwendige Entscheidungen auch dann einmal durchsetzen, wenn sie der Mehrheitsmeinung widersprechen.“ Der Meinungsforscher hat zweifellos recht, wenn er die Grenzen der Meinungsforschung anklingen lässt: „Ich hätte mir gewünscht, die bisher einzige Kanzlerin der Bundesrepublik hätte weniger auf Meinungsforscher gehört, sondern nach dem politischen Kompass regiert, für den die Unionsparteien in der Zeit vor ihrer Kanzlerschaft standen.“

Das hätte aber vorausgesetzt, dass Angela Merkel einen anderen Kompass außer dem eigenen Erfolg, außer dem eigenen Ehrgeiz als Musterkanzlerin in die deutsche Geschichte einzugehen, besessen hätte. So geht sie als Zerstörerin ein, weil ihr der Kompass für das Land, für die gesellschaftliche Entwicklung, weil es ihr an historischer und gesellschaftlicher Bildung mangelte, sie war als Kanzlerin eine Pragmatikerin ohne Pragma.

Binkert hätte auch das Böckenförde-Diktum zitieren können: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ Würde, wie man es in Deutschland gerade erlebt, der freiheitliche, säkularisierte Staat versuchen wollen, die Voraussetzungen, von denen er lebt, zu garantieren durch beispielsweise den Verfassungsschutz, der dadurch zum Regierungsschutz oder schlimmer noch zur politischen Polizei würde, oder durch die Einführung von Meldestellen, wo Meinungen „unterhalb der Strafbarkeitsgrenze“ denunziert werden, würde er die Freiheit abschaffen, was mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit begänne. Wer übrigens meint, dass man auch die Folgen aushalten müssen, wenn man seine Meinung frei äußert, der begibt sich argumentativ auf das Niveau von Diktaturen, denn auch in der DDR, auch unter Stalin in der Sowjetunion konnte man frei seine Meinung äußern, man musste dann halt nur auch die Folgen akzeptieren.

Binkerts Schlussfolgerung und die Grundlage seiner Arbeit sei jedem, der sich im Bereich der Meinungsbildung, der Meinungsforschung und der Politik engagiert, ins Stammbuch geschrieben: „Zu hoffen bleibt, dass ein breiter und offener politischer Wettbewerb durch selbstbewusste Bürger und den Rechtsstaat gegen Versuche geschützt wird, Personen und ihre Positionen aus dem Diskurs der Meinungen zu verdrängen. Alle, die sich im Rahmen der Gesetze und auf dem Boden der Verfassung bewegen, müssen sich in einer freiheitlichen Gesellschaft mit einer lebendigen Demokratie einbringen können.“

Binkerts Buch jedenfalls ist Pflichtlektüre für jeden Bürger und jeden Politiker, eine Pflicht jedoch, die keine Bürde darstellt, denn das Buch ist anschaulich und kurzweilig geschrieben.

Hermann Binkert, Wie Deutschland tickt. Ein Meinungsforscher packt aus. Fontis Verlag, 256 Seiten, Paperback, 24,90 €.

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