Der Dominoeffekt, der Europa veränderte

vor 4 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Zu kollektiven Geschichtserinnerungen gehört die präzise Antwort auf die Frage, wo man in der entscheidenden Minute war. Die Millennials sind zu jung für den Mauerfall, erinnern sich aber meist noch an den 11. September. Was am Tag von Angela Merkels Grenzöffnung geschah – und dieser Begriff wird seit zehn Jahren mit Nachdruck aus der offiziellen Geschichtsschreibung verdrängt –, kann der Autor dieser Zeilen noch genau rekonstruieren.

Es geht dabei weniger um die persönliche Erinnerung als um die europäische Wahrnehmung. Ich war am Gardasee. Die erste Frage lautete: Sind die Deutschen übergeschnappt? Merkel und ihre Bundesregierung, die seit Jahren „europäische Interessen“ beschworen, hatten im Alleingang genau diese Interessen missachtet. Italien kämpfte seit dem Zusammenbruch Libyens gegen den Andrang von Migranten. Merkels Signal war kein rein deutsches, auch wenn sie – stets getrieben von Umfragen und Schlagzeilen – es vor allem als innere Angelegenheit betrachtete.

In dem Moment, da Bundeskanzleramt und Bundesinnenministerium dem Linkspopulismus nachgaben und das Recht außer Kraft setzten, wusste jeder Gaststättenbesitzer am Gardasee besser, was das bedeutete, als so mancher Experte mit Hochschulabschluss.

Schon der bloße Eindruck, Deutschland nehme jeden Asylbewerber auf, hätte genügt, um die Grenzstaaten der EU mit all jenen Migranten zu belasten, die eigentlich nach Deutschland wollten. Indem Berlin die gemeinsame Grenzpolitik im Inneren sabotierte, sank die Bereitschaft, sich für Berlin einzusetzen – zumal man sich gleichzeitig moralisch belehren lassen musste. Der Umgang mit Ungarn 2015, das sich lediglich an EU-Recht hielt, zeigte: Wer nicht der neuen deutschen Linie folgte, wurde von oben herab behandelt.

Auch auf europäischer Ebene ist Merkel in 16 Jahren kein Wurf gelungen, nichts, was über das Tagesgeschäft oder die Verwaltung von Strukturen hinausgegangen wäre. Am Ende der ersten Phase der Migrationskrise war es Wolfgang Schäuble, der auf einen Türkei-Deal mit Erdogan drängte, um den Zustrom zu bremsen – erneut ein deutscher Alleingang. Danach reduzierte sich die Strategie auf „Verteilungsschlüssel“. Ein Affront für die Osteuropäer. Angesichts einer deutschen Willkommenskultur, die wie ein Magnet wirkte, sollten nun Staaten mitziehen, die ihre Politik gezielt auf minimale Zuwanderung ausgerichtet hatten.

Der deutsche Sommer 2015 war nach der Finanzkrise der zweite Fall, in dem Deutschland beträchtlich an Zustimmung bei den europäischen Verbündeten verlor. Im ersten Fall hatte die Bundesrepublik aufgrund ihrer Liquidität noch eine strategisch wichtige Rolle gespielt, bei der die anderen Staaten mitzogen. Im Fall der Migrationskrise hatte Deutschland jedoch nur eine neue Form der Moral anzubieten, die in Wirklichkeit eine als Gutmenschlichkeit getarnte Arroganz war. Es gab vermeintliche Experten wie einen deutschen Historiker, der eigentlich für seine Machiavelli-Expertise bekannt war, und der sich zu der Spekulation verstieg, Merkel habe durch ihre Intervention den Balkan entlastet und damit Europa gerettet. In Wirklichkeit hat kaum ein Nachkriegspolitiker Europa mehr Schaden zugefügt als Angela Merkel.

Erster Fall: Das Vereinigte Königreich. Hierzulande wehrt man sich bitterlich, eine Linie zwischen den Sommerereignissen 2015 und dem Brexit-Referendum 2016 herstellen zu wollen. Fakt ist jedoch, dass das Thema Migration eines war, das zahlreiche Brexit-Wähler bewegte. Ob die Migrationspolitik des UK nach dem Referendum besser oder schlechter geworden ist, spielt eine separate Rolle; zum Zeitpunkt der Abstimmung nahmen die Briten die EU als sehr zuwanderungsfreundlich war, und das nicht zuletzt aufgrund der Merkel-Devise.

Die psychologischen Folgen bei Individuen müssen nicht rational nachvollziehbar sein; aber ein gewaltiges Problem der Politik der letzten 30 Jahre besteht nicht zuletzt darin, die emotionalen Folgen deutscher wie europäischer Politik massiv unterzubewerten. Emotional heißt nicht dumm oder unvernünftig; auch Intuition und Instinkt sind respektable Größen. Die meisten Deutschen haben beispielsweise nie die Mechanismen des Bundestags im Inneren gesehen, spüren aber instinktiv, dass dort etwas falschläuft. Dass Politik Vertrauen einfordert, und Vertrauen häufig keine rationale, sondern emotionale Dimension hat, gehört in dieselbe Kategorie der Missverständnisse.

Der gegenwärtige Zustand des UK ist daher auch ein Merkel-Zustand. Ausgerechnet Nigel Farage, der Anführer der Brexiteers, ist derzeit dabei, das seit anderthalb Jahrhunderten bestehende Parlamentssystems des Landes auszuhebeln, in dessen Unterhaus der Wechsel zwischen Tories und Labour zu den Konstanten seit dem späten viktorianischen Zeitalter gehört. Der Austritt des Vereinigten Königreichs hat Deutschland dabei langfristig in finanzpolitischen und wirtschaftspolitischen EU-Entscheidungen geschwächt. Hier standen die Briten den Deutschen deutlich näher als den Franzosen und Italienern. Mit dem Verlust des UK hat auch Frankreich unter Macron eine Stärkung erfahren, obwohl das Land zwischen politischer Instabilität und sicherheitspolitischen Unruhen hin- und hergeworfen wird.

In EU-Angelegenheiten ist London ein strategischer Verbündeter, der Deutschland heute fehlt; seine Bedeutung ist heute nur noch die eines Hardliners in Ukraine-Fragen, ohne allerdings die Konsequenzen dieser Politik auf dem Festland spüren zu müssen.

Zweiter Fall: Italien. Nach 2015 verlegte sich der Migrationszug von der Balkanroute auf die zentrale Mittelmeerroute. Vielfach waren darunter Menschen, die sich 2015 auf den Weg gemacht hatten, nun aber nicht mehr über die Türkei einreisten, sondern über Libyen. In dieser Zeit nahm das Engagement von NGOs zu, nicht zuletzt von deutschen Organisationen, die über Kirchen und Staat mitfinanziert wurden.

Innenpolitisch führte der deutsche Alleingang, gepaart mit dem Eindruck, in der Krise im Stich gelassen zu werden, zum Aufstieg der Lega und ihres Frontmannes Matteo Salvini. Hatte die Lega in den Vorjahren noch ein gewisser Ruch angehaftet – als Vertretung des Nordens war sie südlich des Po kaum wählbar –, hatte sie ihre Wählerschaft konstant erweitert. Diese Kultivierung des politischen Bodens war möglich, weil die Rassismus-Keule angesichts der zahlreichen Probleme, die die Migration verursachte, nicht mehr ausreichend wirkte. Die Lega hat mittlerweile ihr Potenzial wieder eingebüßt; die Stimmen verblieben jedoch im rechten Lager und wanderten später zu Giorgia Meloni und den Fratelli d’Italia. Ohne Eskalation der Migration und Radikalisierung der politischen Lager hätte es diese Entwicklung nicht gegeben.

Dass demnach Giorgia Meloni heute so agieren kann, wie sie agiert, nämlich in einer gewachsenen europäischen rechten Familie, die sich nicht mehr am Rand der Gesellschaft befindet, ist paradoxerweise Merkels Erbe.

Ein Treppenwitz der Geschichte, dass Merkel den Nationalkonservatismus in Europa so sehr gestärkt hat wie kaum eine andere Politikerin? Man könnte es fast als positive Wende sehen. Freilich ist diese Wende mit dem Macht- und Bedeutungsverlust Deutschlands erkauft worden – und einem Wachstum von Kriminalität und Unsicherheit bei gleichzeitigem Wohlstandsverlust.

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