
Große Teile seiner Regierungserklärung widmete Friedrich Merz dem Ukraine-Krieg und dem damit einhergehenden Problemkomplex. Nicht die zerbröselnde Infrastruktur, die Implosion am Wohnungsmarkt, die verkorkste Energiewende, die massenhaft Firmen ins Ausland vertreibt, die Migrationskrise oder der längst gekippte Arbeitsmarkt beschäftigen diesen Mann und sein Kabinett: Es geht im Wesentlichen darum, eine allgegenwärtige Russlandgefahr heraufzubeschwören. Russland sei der „Feind“ und man werde „ohne Wenn und Aber“ an der Seite der Ukraine stehen, so Merz. Klingt so der Versuch eines diplomatischen Neuanfangs und der Beginn einer Reihe von Friedensgesprächen mit Russland?
Deutschland müsse wieder wehrtüchtig, zur Nummer Eins der europäischen Armeen werden. Deutschland sei „keine neutrale Partei mehr“, so der Christdemokrat. Das sind bedenkliche, unbedacht-eskalationsfähige Worte. Und sie dürften nicht nur in den europäischen Hauptstädten, sondern gerade auch in Moskau nachhallen. Der Ukraine-Krieg ist verloren, seine Prolongation mit dem fiskalischen Füllhorn grenzt an Wahn, weshalb man sich fragen muss, was sich hinter der Kriegsrhetorik von Merz, Macron und Starmer verbirgt?
Das Kriegsnarrativ könnte an dieser Stelle eine Doppelfunktion erfüllen. Zum einen lenkt es von innenpolitischen Problemen ab. Selbst Friedrich Merz wird ahnen, dass der deutsche Weg unzweideutig in eine sich vertiefende Rezession führen wird. Er wird spüren, dass die Brüsseler Regulierungsmacht, die die Wirtschaft niederdrückt, nur durch einen politischen Riss, möglicherweise einen Austritt aus der Europäischen Union, zu brechen wäre.
Und um Brüssel dürfte sich die holistisch-rhetorische Medienarbeit drehen, wenn immer wieder die abstruse Gefahr einer russischen Okkupation Europas beschworen wird. Zum anderen deutet dieses Kriegs- und Rüstungsnarrativ auf eine mögliche Einführung von Eurobonds hin. Das ist das unbestrittene Ziel der Eurokraten in Brüssel und den meisten nationalen Parteien in der EU: die Etablierung eines gemeinsamen Schuldenmechanismus und damit die faktische Auflösung des Maastricht-Vertrags. Auch Merz bestätigte diesen Kurs anlässlich einer Pressekonferenz in Brüssel am 9. Mai. Die EU versucht angesichts der wachsenden Schuldenproblematik, eine neue Finanzierungsebene einzuziehen, Kriegsanleihen wären die Vorstufe zur Etablierung des gemeinsamen Schuldenmechanismus.
Die EU-Europäer werden schon seit längerem medial weichgekocht, wenn es um das Ende der Schuldenregeln geht. Die Stoßrichtung ist unverkennbar: Die Europäische Kommission soll im Namen aller EU-Staaten Kredite über den Anleihenmarkt aufnehmen. Die EZB nimmt dann auf ihre Bilanz, was der Markt verschmäht, und hält so den wachsenden Schuldenberg der EU liquide. Die auf diese Weise erzeugte Inflation schiebt man in gewohnter Manier anderen in die Schuhe (Putinflation oder Trump-Zölle). Im Politikersprech wird das Aufweichen des letzten Mechanismus zur Begrenzung europäischer Staatsschulden dann als „europäische Solidarität“ beworben – man ertränkt nationale Haushaltsdisziplin in Brüsseler Bürokratie.
Deutschland wird natürlich – ob wissentlich oder nicht – der Hauptsponsor dieses Schuldenspektakels sein, sollte es dazu kommen. Man kann sich also auf einen heißen Sommer gefasst machen: heiße Luft in den Medien, Kriegsgeschrei, eine weitere Schuldenakzeleration bei anhaltender Euro-Rezession. Und regiert erst einmal die Angst und hat ein unsichtbarer Schleier von Panik die Menschen gebannt, verschwinden längst verstaubte fiskalische Regeln in den Senkgruben des politischen Idealismus. Kriegspanik ermöglicht, was die EZB nicht offen verkünden kann: Generalhaftung für jeden politischen Unfug – der Steuerzahler als einziges Kollateral des energiearmen Europa, das den eifersüchtigen Blick auf Russlands Bodenschätze kaum verbergen kann.
Nach drei aufeinanderfolgenden Rezessionsjahren verblasst die Erzählung vom deutschen Wirtschaftswunder zu einem Märchen im Windmühlenwald. Und Merz wird dieses Trauermärchen fortschreiben – bis zum letzten Emissionspartikel. Merz ist im Herzen Brüsseler Bürokrat, einer von ihnen, einer aus dem Fleische der von der Leyens und Draghis. Er teilt die Überzeugung des starken Staats, der Zentralisierung politischer Macht und politischen Steuerung fundamentaler Sektoren wie der Energiewirtschaft. Seine Lösung für wirtschaftliche Probleme, die sich längst in sichtbare gesellschaftliche Krisen übersetzen, muss daher zwangsläufig auf schuldenfinanzierten Staatsinterventionismus hinauslaufen. Und wenn der Weg zu gemeinsamer europäischer Schuldenaufnahme über künstlich geschürte Russlandpanik führt, dann soll es so sein. EU-Europa ist der rhetorische und politische Fluchtpunkt dieser Politik.
Und die EU-Europäer tanzen längst am Rande einer veritablen Schuldenkrise. Nicht in der Art, wie Politiker es mit politischer Phrasendrescherei umschreiben: „Fiskalische Herausforderungen“ oder „Budgetgegenwind“ sind Euphemismen im Vergleich zu dem, was sich am Schuldenhorizont des alten Kontinents abzeichnet. Die Mehrheit der Staaten ist strukturell insolvent. Frankreichs Schulden nähern sich der Marke von 3,2 Billionen Euro. Das sind 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Italien spielt mit über 140 Prozent in einer eigenen Liga. Nur zur Erinnerung: Vor 15 Jahren genügte eine Schuldenquote des ökonomischen Zwergs Griechenland von 143 Prozent, um das marode Schuldengebäude als Ganzes an den Rand der Katastrophe zu befördern. Hätten nicht Steuerzahler und Zentralbank mit Billionenhilfen diesen Schuldenberg liquide gehalten, wäre der Euro längst Geschichte.
Es hat den Anschein, als habe man in weiten Teilen des europäischen Südens jede Form fiskalischer Disziplin aufgegeben. Im Zweifelsfalle stellt die EZB die Schulden glatt. Inflation? Das ist vorläufig nicht das Problem der Zentralplaner in Brüssel oder im Frankfurter EZB-Tower. Wachstum? Stagnierend oder negativ. Investitionen der Privatwirtschaft? Nicht der Rede wert. Demografische Aussichten? Katastrophal. Die Jugendarbeitslosigkeit bleibt chronisch hoch, und eine alternde Bevölkerung wird nun von einer schrumpfenden Arbeiterschaft finanziert – Sozialkosten werden über den Faktor Arbeit getragen und weit und breit ist kein Wille, die heilige Kuh des Sozialstaats auf Diät zu setzen!
Europas Wirtschaftsmodell – günstige Energie aus Russland, offene US-Märkte und industrielle Stärke sowie ein künstlich verbilligter Euro – ist im Großen und Ganzen Geschichte. Die EZB steckt in der Falle: Zinserhöhungen erhöhen die Insolvenzgefahr der Staaten, die von Merz und seinen sozialistischen Kollegen implizit geforderte Ausweitung der Geldmenge untergräbt die Glaubwürdigkeit des Euro. Aber die hartnäckige Rezession wird die Geldplaner in Frankfurt zur Aufweichung der Währung zwingen. Wenn nicht, steigt der Druck aus den hochverschuldeten Hauptstädten der Eurozone. So oder so: Der Euro wird weiter Kaufkraft verlieren.
Ein Plan zur Rettung dieses maroden Gestells Euro existiert längst. Der digitale Euro soll es richten. Er entspräche der Einführung von Kapitalkontrollen, da Geldeinheiten dann zentral steuerbar und programmierbar wären. In Verbindung mit koordinierten Steuererhöhungen, der Einführung des europäischen Vermögensregisters wären die EU-Europäer schutzlos einem politischen Machtkomplex ausgesetzt, der keiner substantiellen Kontrolle unterläge.
Doch bei aller Kriegsrhetorik im Bundestag und den Hauptstädten der EU: Europa kann sich mit Blick auf seine marode Ökonomie keinen Krieg leisten. Aber seine politische Repräsentanz treibt die Idee um, die Kriegsangst zu materialisieren. Macht soll in Brüssel konzentriert werden, frischer Kredit die Euro-Ökonomie mit einem Strohfeuer beleben – man wird sich Zeit kaufen und sich dann die weiteren Schritte überlegen, wie man es immer schon getan hat. Die Substanz ist längst verbraucht, Europa geht auf dem Zahnfleisch, wirtschaftlich tot, kulturell ausgezehrt und ohne sichtbare Opposition aus Kunst, Philosophie und Schriftstellerei. Der Brüsseler Bürokraten-Stadl hat dem alten Kontinent den Rest gegeben. Nun nimmt er ihm die Hoffnung.
Thomas Kolbe, studierter Volkswirt, arbeitet seit über 25 Jahren als freiberuflicher Autor sowie als Medienmacher für Kunden aus verschiedenen Branchen und Wirtschaftsverbänden. Als freier Publizist widmet er sich schwerpunktmäßig ökonomischen Prozessen und beobachtet geopolitische Ereignisse aus dem Blickwinkel der Kapitalmärkte.