Die große Ernüchterung

vor etwa 6 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

„Mehr Demokratie wagen!“ Die Worte aus Willy Brandts erster Regierungserklärung blieben im kollektiven Gedächtnis haften. Heute, da nichts dringender wäre, als wieder mehr Demokratie durchzusetzen gegen den woken Zeitgeist, gegen staatliche Bevormundung, Enteignung und links-grüne Moral, bleiben solche Ambitionen aus. Aber ein nachhaltiger Politikwechsel ist ohne Kulturwandel nicht möglich.

Die erste Regierungserklärung von Friedrich Merz war von bemerkenswerter Schlichtheit, nicht nur – wie die linke Medienmehrheit von oben herab lobt – mild, sondern mau. Kleinmut statt Kampfesmut. Keine Euphorie, sondern Ernüchterung. Es ist ja nicht verkehrt, wenn einer keine großen Töne spuckt, sondern Taten sprechen lassen will. Dennoch: Erinnerungswürdig ist an dieser Rede nichts, allenfalls die Formulierung, „kein ideologisches Großprojekt“ im Sinn zu haben. Das Versprechen ist nichts wert, solange die Regierung Merz sich nicht glaubwürdig vom bestehenden grünen Großprojekt distanzieren kann. Auch wenn sie die „demokratische Mitte“ in Deutschland beschwört, folgt sie der alten ideologischen Linie. Diese Mitte umfasst nur linke Parteien, neuerdings auch die ganz Linke. Nach Lösungen „zu suchen, zu ringen, zu streiten“, verspricht Merz. Wenn es denn so wäre. Er will aber nur irgendwie durchkommen, ohne anzuecken.

So wird die verheerende Energiewende ein wenig umformuliert, aber nicht beendet oder gar, was notwendig wäre, zurückgedreht. Wenn Merz die neue Bündnisfähigkeit der Europäer beschwört, müsste er erst einmal Abschied nehmen von der alten Leitlinie, am deutschen Wesen müsse die Welt genesen einschließlich ihres Klimas. Kein Wort über die Rückkehr zur Kernenergie. So werden, ein zweites Beispiel, die Grenzkontrollen verschärft, das eigentliche Problem aber übergangen: die Pullfaktoren des deutschen Sozialstaats, die nach wie vor Migranten anlocken.

Interesse scheint der Kanzler allein an seiner Rolle auf der außenpolitischen Bühne zu haben. Das lenkt medienwirksam ab vom ideologischen Weiter-so in Berlin. Auch hier muss man sich wundern. Sein Bekenntnis zu noch engerem europäischem Zusammenschluss ist wenig wert, solange ihm, abgesehen von einem einzigen Satz zum Brüsseler Regelungswahn, nichts zu einer gründlichen Reform der Institutionen einfallen will. Es scheint, als solle das ursulinische Regime allenfalls durch etwas unterlaufen werden, was früher einmal „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ genannt wurde. Merz – Macron – der Brite Starmer: die drei von der Baustelle, das ist das Bild, das hängen bleibt und wohl auch hängen bleiben soll. Nicht mehr in Brüssel werden die großen Räder gedreht.

Diese Regierungserklärung bot eine endlose Litanei von Selbstverständlichkeiten, die „normal“ sein sollten. Sie sind es nicht mehr, was beweist, wie abnormal die deutsche Politik in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter Merkel und Scholz gewesen ist. Konkret waren die Ankündigungen des Kanzlers kaum einmal. Sein erkennbares Streben ist, Konflikte zu vermeiden. Vor allem nicht mit den Sozialdemokraten, nach dessen Beifall er giert und ihnen weit mehr Spielraum einräumt, als es dem Wahlergebnis entspricht. Hauptproblem der Sozis: Sie singen das uralte Lied von der Solidarität und verwechseln dabei Solidarität mit dem Staat. Die so sehr beschworene „Handlungsfähigkeit des Staates“ steht jedoch im klaren Widerspruch zur Handlungsfähigkeit des Bürgers. Wenn Merz mit dem Bekenntnis schließt: Der Staat, das sind doch wir alle – irrt er fundamental. Wäre er ein Liberaler, wüsste er, dass das Gegenteil stimmt. Der Staat ist der Leviathan, der den Bürgern die Freiheit raubt.

Und die Opposition? Macht es Merz leicht. Die Grünen haben noch immer das alte Brett vor dem Kopf. Alice Weidel sagt viel Richtiges. Aber sie übertreibt, lässt höhnisch wie hämisch kein einziges gutes Haar an Merz, nimmt sich damit selbst die Überzeugungskraft. Merz ist ganz sicher kein „Kriegstreiber“ und ganz sicher auch kein „Extremist“, als den sie ihn hinzustellen versucht. Außerdem reden die Alternativen am liebsten von sich selbst, von ihrer Benachteiligung, von ihrer Verfolgung durch den Verfasssungsschutz. Sie sind vor allem beleidigt. Das genügt nicht. Und die Linke? Manche Sätze aus ihren Reden könnten sich mühelos in die Rede von Rechten verirren. Beide überziehen ohne Maß. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass der Verfassungsschutz nur nach rechts schaut. Beide Flügelparteien verherrlichen den Staat noch weit mehr als Merz. Was diesem Land wirklich fehlt ist eine liberale, freiheitliche Kraft. Aber von Wählern, die von Ängsten regiert werden, und sich unter den Rock des Staates flüchten, ist das nicht zu erwarten.

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