
Die Geschichte des Westens ist die Entstehung des Einzelnen. Ein jahrhundertelanges Ringen war nötig, hundert Meere mussten besegelt, tausend Schlachten geschlagen werden, es brauchte den Aufstieg und Fall Roms, die Renaissance und die Reformation, um diese zarte Pflanze wachsen zu lassen. In tausenden Jahren der Finsternis gibt es nur einen kleinen Fleck auf der Welt in einer sehr kleinen Zeitspanne – den Westen – in der der Einzelne existieren kann, dem Wahnsinn der Masse enthoben – in einem fragilen Konstrukt: dem Bürger. Deshalb nennen wir uns Bürgerliche, weil das die Frage aller Fragen ist. Aber was ist nun von einem sogenannten bürgerlichen Politiker zu halten, der bereitwillig seine eigene Persönlichkeit aufgibt?
Es ist ein Satz, mit dem alles plötzlich Sinn macht. Im Bundestag verkündet Friedrich Merz den „großen Sprung nach vorne“ beim Klimaschutz – exakt jene mörderische Formel, mit der Mao China in die größte Hungersnot der Geschichte führte. Ein Versehen, ein Versprecher, könnte man meinen. Doch am nächsten Tag postet seine Fraktion im Netz genau diese Formulierung und feiert sie.
Das zeigt uns: Niemand im Apparat der CDU weiß überhaupt nur, was der große Sprung nach vorne gewesen sein könnte oder hält die Überschneidung für problematisch. Das ist nicht nur peinlich. Der große Sprung nach vorne war das größte Experiment sozialistischer Wirtschafts-Transformation und Planwirtschaft in der Geschichte; er ist das brutalste Kapitel des kollektivistischen Staatsumbaus mit 45 Millionen Toten. Das ist nicht nur eine Frage der Allgemeinbildung – ohne Mao und den Wahnsinn der Massen im 20. Jahrhundert zu verstehen, kann man keinen bürgerlichen Kompass entwickeln. Sie wissen gar nicht, worum es eigentlich geht, was der tiefe Sinn und die lebensnotwendige Bedeutung bürgerlicher Politik ist.
Außerdem ist die Formulierung des großen Sprungs nach vorne auch in sich schon verräterisch: spricht doch schon aus den Worten der manische Größenwahn, der Allmachtsanspruch gepaart mit der merkwürdig infantilen Verharmlosung des eigenen Handelns.
Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen uns: Es ist viel schlimmer, als dass die CDU bloß umgefallen wäre. Es ist mehr als Zynismus, mehr als Schwäche, mehr als Skrupellosigkeit. Friedrich Merz steht im Bundestag und hat keinen blassen Schimmer mehr, was bürgerliche Politik, was Konservatismus überhaupt sein könnte – er versteht die Empörung auch gar nicht. Es ist eine charakterliche Selbstaufgabe in einer psychologischen Dimension, nahe der Hypnose – er lässt sich mitreißen und fängt an, es zu glauben, weil er es anders nicht ertragen könnte. Alles andere war nur Fassade, vielleicht gut genug, ihn selbst zu täuschen. Wer sich selbst so billig verkauft, hat vom Wert der westlichen Gesellschaft nichts verstanden.
Friedrich Merz ist vollkommen seiner Umgebung unterworfen, er hat ihren Trieb nichts entgegenzusetzen. Insofern hat er sich schon charakterlich disqualifiziert für den Beruf, den er anstrebt.
Er lässt sich bereitwillig erniedrigen und demütigen, wie kaum ein Spitzenpolitiker zuvor, weil er nicht den Schneid hat, Nein zu sagen – doch erst beim Nein würde Souveränität beginnen. Diese Charakteroffenbarung ist fast noch verheerender als die inhaltliche Dimension: Auf der Weltbühne wird er untergehen. Der Mann, der sich von Britta Haßelmann unter den Tisch verhandeln ließ – was will er bei Trump oder gar Putin? Das Machtgefälle auch in der Koalition ist abgesteckt, das kann man nicht mehr drehen – ein gebrochener Mann kann nicht mehr pokern.
Friedrich Merz ist der linken Notstandsrhetorik ausgeliefert, er hat ihr auch intellektuell nichts entgegenzusetzen. Gegen ihn wird Scholz im Rückblick zum weltpolitischen Riesen, Lindner zu einem absolut prinzipienfesten Überzeugungstäter und Robert Habeck zum scharfsinnigen politischen Intellektuellen. Und das ist nicht mal übertrieben.