
Was für eine Nachrichtenwoche: Die Deutsche Meisterschaft ist entschieden, sechs neue Minister werden an einem Tag bekannt gegeben und der Bundestag wählt den zehnten Bundeskanzler in seiner 76-jährigen Geschichte. Alles Premium-Nachrichten. Eigentlich. Doch in der Poststation, an der Bäckertheke oder beim Gassigehen beherrscht in Berlin ein anderes Thema die Gespräche: Am Donnerstag ist Feiertag, aber nur einmal, wegen der Kapitulation.
Bayern München ist schon so oft Meister geworden, dass keiner mehr weiß, ob es 33. oder 34. Mal war – und weil es auch keinen interessiert. Und die Ministerinnen? Bärbel Hubig, Verena Huber und die Dingsda, die schon da war… – was innerhalb der Berliner Blase elektrisierende Nachrichten sind, interessiert schon zwei Nebenstraßen weiter keinen mehr. Was denn heute los sei, will eine Bürgerin am Dienstag wissen. Dass an diesem Tag Friedrich Merz Kanzler wird, hat sie nicht mitbekommen. Sie interessiert sich lediglich für den Rückstau vor ihrer Poststation. In der Reinhardtstraße, die direkt zu Hauptbahnhof, Kanzleramt und Reichstag führt. Selbst innerhalb der Berliner Blase ignorieren die Normalbürger mittlerweile das politische Geschehen.
Eine Kundin klärt die Chefin auf. Friedrich Merz (CDU) soll heute zum Kanzler gewählt werden, sei aber im ersten Wahlgang gescheitert und jetzt wisse niemand, wie es weitergeht. Es ist Dienstag, 16 Uhr. Die Autos stauen sich mittlerweile von der Luisenstraße bis zur Spree. Die Politik lässt das Volk an diesem Tag das Gelände rund um den Reichstag großräumig absperren. Die Politiker innerhalb der Absperrung scheinen die Bürger zu fürchten. Die Bürger außerhalb der Absperrung zeigen sich desinteressiert: Warum die Wahl Merz’ sie interessieren solle, stellt die Kundin in der Poststation als Gegenfrage auf die Frage, warum das Interesse an Merz so gering bleibe. Es ändere sich doch nichts.
Der Brennpunkt zur Wahl ist zwar die meistgesehene Fernseh-Sendung vom Dienstag. Aber nur 5,9 Millionen Zuschauer schalten ein. Bei einem normalen Länderspiel im Fußball sind es neun Millionen, bei einem großen Turnier schnell mal 14 oder 15 Millionen. Und als Konkurrenz laufen “Tierärztin Dr. Mertens” oder “Rosenheim-Cops”. Seichter Serienmist für Anspruchslose, die sich aufgegeben haben. Die jeden Abend einschalten, egal was läuft – einfach, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Zeit sonst totschlagen sollten.
Merz selbst gibt der ihm unbekannten Kundin in der Poststation recht: Er bemängelt selbst, dass es keinerlei Aufbruchstimmung in Deutschland gäbe. Doch mit sich bringt Merz die fehlende Euphorie nicht in Verbindung. Selbstkritik ist innerhalb der Blase ein derart abwegiges Fremdwort, dass es in einer Politik-Version von “Wer wird Millionär?” als Schlussfrage funktionieren würde, vom Kandidaten wissen zu wollen, was das sei. Selbstkritik? Die neue Koalition solle handlungsfähig sein und so schnell neue Fakten schaffen, dass sich die Aufbruchstimmung schon noch einstelle, verspricht Merz.
Verspricht Merz. Ein Klassiker. Haushaltsdisziplin versprochen und eine Billion Euro neuer Schulden geliefert. Eine konsequente Schließung der Grenzen versprochen – noch am ersten Tag seiner Kanzlerschaft – und den Aufenthalt illegal Eingereister erleichtert. Niedrige Steuern und Abgaben versprochen und den Satz geliefert, es werde alles teurer, da werde sich der Bürger halt dran gewöhnen müssen. Merz hat mehr Versprechen gebrochen, als der FC Bayern München Meisterschaften gefeiert hat. Wenn Merz eine konsequent und diszipliniert arbeitende Regierung verspricht, erwarten die Bürger, dass er es im Bundestag verbockt – und behalten damit am Dienstag recht. Tagsüber steigen die Quoten der Öffentlich-Rechtlichen erst, nachdem sich Merz’ Pleite entwickelt und Ratlosigkeit breitmacht. Der neue Kanzler funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie Al Bundy oder Wile E. Coyote: Klar, weiß der Zuschauer, dass er scheitern wird, aber bestimmt wird’s lustig.
Ein wenig was passiert am Tag danach. Immerhin. Der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (parteilos) hat laut Bild Andreas Goergen entlassen. Der war Büroleiter unter Weimers Vorgängerin Claudia Roth (Grüne). Als solcher hat er es ermöglicht, dass die massiv staatlich gepamperte Ausstellung “Documenta” antisemitische Propaganda als Kunst verkaufen konnte. Die Ruhrbarone nannten ihn einst “Claudia Roths Gehirn”. Ihn nach einem anderen Körperteil zu benennen, wäre vielleicht inhaltlich richtig, aber dennoch unklug. Die Mächtigen innerhalb der Absperrung dürften den Pöbel außerhalb der Absperrung so nennen. Doch für sich selbst haben sie ein Sonderrecht geschaffen. Den Paragraphen 188 des Strafgesetzbuches. Der stellt sicher, dass das Volk die Mächtigen nicht allzu deutlich kritisiert, wenn es sich schon so beharrlich weigert, sie euphorisch zu bejubeln.
Der Dachverband der Krankenkassen, GKV, bemüht sich, die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) mit netten Worten zu begrüßen – muss sie allerdings auch daran erinnern, was ihr Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) ihr alles an Altlasten hinterlassen hat: “Wir haben Rekordbeitragssätze, wir haben nur noch sieben Prozent einer Monatsausgabe als Reserve und wenn nichts geschieht, wird sich die Beitragsspirale ungebremst weiterdrehen und die Zusatzbeiträge werden explodieren”, sagt Doris Pfeiffer, die Vorstandsvorsitzende der GKV.
Sieben Prozent einer Monatsausgabe als Reserve… Eigentlich sollten es 100 Prozent sein. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Finanzierung der Krankenkassen so unseriös wie unter Lauterbach. Die Beitragsexplosion droht. Die nächste. Die letzte fand zum Jahreswechsel statt. Um zehn Milliarden Euro stünden die Krankenkassen besser da, wenn der Bund die Kosten übernehmen würde, die Empfänger von Bürgergeld den Kassen tatsächlich verursachen – also damit den Arbeitgebern und Beschäftigten, die Gebühren zahlen. Jetzt gibt es drei Möglichkeiten:
A: Der Bund übernimmt die vollen Kosten für die Empfänger von Bürgergeld und überweist den Kassen zehn Milliarden Euro mehr pro Jahr. Doch aktuell hat der Bund noch nicht einmal einen Haushalt für das laufende Jahr. Es ist übrigens schon Mai. Und mittlerweile hat das Team um Merz festgestellt, dass es sich selbst zwar ungebremst “Sondervermögen” zusprechen kann. Dass die “Sondervermögen” offiziell aber immer noch als Schulden gelten und Deutschland bereits jetzt die Grenze überschritten hat, die von der EU eigentlich festgelegt wurde, um den Euro zu stabilisieren.
B: Die Regierung Merz reformiert wie versprochen das Bürgergeld und sorgt damit für einen Rückgang der Empfänger. SPD, Grüne und FDP haben den Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit reformiert. Sie haben Hartz IV in Bürgergeld umbenannt. Außerdem haben sie die Pflichten der Empfänger gestrichen. Von diesen befreit sollte es ihnen leichter fallen, einen guten Job zu finden. Das hat die Ampel wirklich gedacht. Die Zahl der Empfänger ist seitdem gestiegen. Nun hat Merz versprochen, den Druck auf Langzeitarbeitslose wieder zu erhöhen. Für den Anfang geben CDU, CSU und SPD dem Ganzen wieder einen neuen Namen – davon wird das Geld für Langzeitarbeitslose bald mehr gehabt haben als der FC Bayern München Titel.
C: Alles wird teurer. Die Leute sollen sich daran gewöhnen.
Hand aufs Herz: Tippt irgendjemand noch auf etwas anderes als C? Die explosionsartige Erhöhung der Beitragssätze ist nur eine von vielen dringenden Baustellen. Die illegale Einwanderung, die kaputten Straßen und Brücken, die verteidigungsunfähige Armee, die schrumpfende Wirtschaft, die Unsicherheit auf Bahnhöfen und Plätzen… Nichts mehr davon zu hören am Tag danach. Friedrich Merz ist Kanzler und geht auf Reisen. In Frankreich deutsche Versprechungen machen, in Polen auch…
Hierzulande kommt keine Euphorie über die neue Regierung auf. Und wo soll’s auch herkommen? Am Tag danach kümmern sich die Verantwortlichen um sich, feiern, dass es entgegen allen Versprechungen noch ein Ministerium mehr gibt. Da hat es aus der Sicht der Mächtigen einen weiteren positiven Effekt, wenn sie das Volk wieder großflächig aussperren. Dann bekommt das wenigstens mit, dass innerhalb der Blase was passiert.