
In den letzten Wochen vor dem Mauerfall sorgte die Dresdner Inszenierung des Stücks „Die Ritter der Tafelrunde“ für Aufsehen. Autor Christoph Hein und Regisseur Klaus Dieter Kirst kritisierten für die DDR ungewohnt hart das SED-Politbüro. Es taucht auf der Bühne als eine Runde alter, müder Ritter auf, die ratlos sind und sich in die verzweifelte Hoffnung verbeißen, dass es den Heiligen Gral doch geben müsse. Wobei dieser Gral offensichtlich die Idee des Sozialismus ist.
Die Herrenrunde um Friedrich Merz und Markus Söder hat auch einen Heiligen Gral. Es ist die Aufbruch-Stimmung in Deutschland. Die Vorsitzenden der Union beschwören ihn dieser Tage intern wie extern. Doch sie wirken dabei so müde und verbissen wie Heins und Kirsts alte Ritter auf der Dresdner Bühne. Auch wenn Merz und Söder wirklich alles versuchen, den Aufbruch als Heiligen Gral zu beschwören.
Als Schwerpunkt hat sich Kanzler Merz dafür die Außenpolitik ausgewählt. Sein erster Arbeitstag führte ihn nach Frankreich und Polen. Am Wochenende ging es zusammen mit den Staatenlenkern aus Polen, Frankreich und Großbritannien nach Kiew. Die Bild-Chefredakteurin Marion Horn kommentierte das euphorisch: „Europa hat wieder eine Zukunft.“ Was von dem Gedanken ausgeht, dass der Kontinent zwischenzeitlich keine Zukunft gehabt haben soll. Aber das nur am Rande.
Für den Fall, dass es nicht zur besagten Waffenruhe kommt, hat Merz Russland mit strengeren Sanktionen durch Deutschland und die EU gedroht. Dabei ginge es auch um Waffenlieferungen an die Ukraine. Gleichzeitig hat er angekündigt, dass besagte Waffenlieferungen künftig als Geheimsache behandelt werden sollen. Militärisch gedacht durchaus sinnvoll. Doch sollte Merz in diesem Punkt seinen Aufbruch als starker Mann erleben, hätte es halt den Nachteil, dass es niemand mitbekäme. Gut möglich ist aber auch, dass die Geheimhaltung dazu dient, den nächsten Wortbruch des neuen Kanzlers zu verheimlichen.
Die Wortbrüche sind eine wichtige Ursache, die bisher jede Aufbruchstimmung verhindert. Der Wortbruch um die Schuldenbremse und die ungebremste Staatsverschuldung ist ausführlich dokumentiert und kann als historisch abgehakt gelten. Wie viel Luft hinter dem von Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Bild verkündeten Stopp der illegalen Einwanderung steckt, kommt erst allmählich heraus.
Und dass Merz im Wahlkampf niedrigere Steuern und Abgaben versprochen, aber jetzt schon achselzuckend verkündet hat, es werde für den Bürger halt alles teurer, nimmt der ebenso achselzuckend hin. Der Souverän erwartet von seinem neuen Kanzler schon gar nichts anderes mehr. Entsprechend schlecht sind die „Zustimmungswerte“. Nach nur sechs Tagen im Amt ist die Regierung Merz schon so unbeliebt wie die Regierung Olaf Scholz (SPD) nach drei Jahren.
Am Mittwoch ist der achte Tag von Friedrich Merz’ Amtszeit. Dann will er den Stimmungsumschwung schaffen. Mit einer Regierungserklärung im Bundestag. So etwas kann sich tatsächlich ins kollektive Gedächtnis einbrennen. Etwa als Willy Brandt (SPD) 1969 ankündigte, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen, oder Helmut Kohl (CDU) 1982 die „geistig-moralische Wende“ verkündete. Und Merz lässt sich durchaus mit Brandt und Kohl vergleichen. Er hat das gleiche Amt inne wie sie einst. Ansonsten ist ihr Kräfteverhältnis eher wie das von Mickey Mouse zu Arnold Schwarzenegger.
Wer indes eher aus dem Bereich PR und Demokratie-Ökonomie kommt, den gruselt es bei dem Begriff „Agenda“. Denn für die Außen- und Binnenwirkung der SPD wirkte sich der verheerend aus. Innerhalb von einem Jahrzehnt halbierte die Partei ihre Wählerbasis, auch weil viele Traditionalisten unter den Sozialdemokraten Schröder und seinen Gefolgsleuten wie Olaf Scholz oder Frank-Walter Steinmeier die sozialen Härten nicht verziehen, die mit den Hartz-Gesetzen verbunden waren. Die Enttäuschung, in Kombination mit dem Absturz in Wahlen, hat die SPD regelrecht traumatisiert.
Dieses Trauma hat die SPD erst überwunden, als sie unter Kanzler Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil 2022 das „Bürgergeld“ ankündigte. Mit Hartz IV verband Schröder „Fordern und Fördern“. Mit dem Bürgergeld hat die SPD das Fordern gestrichen. Die Sanktionen, so die abenteuerliche Theorie Heils, hätten die Langzeitarbeitslosen nur davon abgehalten, sich den perfekten Job zu suchen. Davon befreit würde ihnen das gelingen, was einen wahren Job-Boom in Deutschland auslösen würde. Das ging – Überraschung, Überraschung – schief.
Gewaltig schief. Trotz „Fachkräftemangel“ und „Arbeitskräftemangel“ steigt in Deutschland die Zahl der Arbeitslosen. Auch weil für Bezieher von niedrigen und mittleren Einkommen der finanzielle Unterschied zur Arbeitslosigkeit kein Anreiz mehr ist, sich jeden Morgen aus dem Bett zu schälen und zur Pflichterfüllung zu trotten. Und weil der Anteil von Ausländern unter den Empfängern von Bürgergeld steigt. Um die Einwanderungspolitik besser zu vermarkten, hat die Ampel erklärt, auch Ungelernte als Fachkräfte zu verstehen und einwandern zu lassen. In der Definition von Fachkräften kann man das machen. Deswegen will sich trotzdem niemand von einem ungelernten Analphabeten eine Elektroleitung verlegen, den Prozess führen oder das Gehirn operieren lassen.
Mit der „Agenda 2030“ will Merz das Gefühl vermitteln, in die Zukunft aufzubrechen. Doch eigentlich reist er damit nur in die Vergangenheit, um die dümmsten Fehler der Ampel zu reparieren. Mit der Wut und Unzufriedenheit kann die Bundesregierung gut leben, die dringt in die Berliner Blase kaum vor. Anders als die Wut und Unzufriedenheit der Landräte und Bürgermeister. Die kennen durchaus Wege, ihre Parteifreunde wissen zu lassen, dass mit dem Bürgergeld die Sozialausgaben in den Städten und Gemeinden explodieren – und sich damit auch deren Haushaltsdefizite vervielfachen. An das Bürgergeld geht Merz daher ernsthaft ran.
Das Fordern kehrt zurück. Unter Scholz und Heil hat die Regierung geglaubt, dass ein Langzeitarbeitsloser nicht zu Hause bleibt, weil es im Bett morgens so schön bequem ist und sich die Zahlung vom Staat kaum von der eines Arbeitgebers unterscheidet. Sondern, weil derjenige einfach noch nicht den passenden Job gefunden hat. Daran glaubt Merz nicht mehr. Deswegen sollen die Jobcenter und die Agentur für Arbeit wieder bessere Möglichkeiten erhalten, Arbeitsverweigerer zu sanktionieren.
Nur gibt es da ein Problem. Als die Ampel das Bürgergeld attraktiv machte, hatten Kanzler und Arbeitsminister das gleiche Parteibuch. Nun soll Merz den Rückbau des Bürgergelds mit Bärbel Bas als Fachministerin umsetzen. Demnächst aller Voraussicht nach die nächste Vorsitzende der SPD. Die hat an diesem Wochenende schon mit ihrem unabgesprochenen Vorpreschen zur Rente gezeigt, wie wenig sie auf Harmonie in der Koalition und wie viel auf das Durchsetzen von Interessen der Partei gibt.
Dass Merz sein Programm „Agenda 2030“ nennt, weckt unter Sozialdemokraten das Trauma, von dem sie 2022 gedacht haben, es nach fast zwei Jahrzehnten überwunden zu haben. Unklar ist, ob der Christdemokrat das will oder sich dieses Effektes nicht bewusst war. Wenn er sich über diese Wirkung nicht im Klaren war, würde Merz beweisen, dass er tapsig agiert und sich folglich häufig korrigieren muss. Eine Theorie, die dank bisheriger Erfahrungswerte als fundiert betrachtet werden darf.
Mag aber auch sein, dass Merz die Sozialdemokraten quälen will. Aus Rache: Weil ihr Vorsitzender Lars Klingbeil ihn in den Koalitionsverhandlungen öfter über den Tisch gezogen hat als einen Putzschwamm. Weil die SPD ihn immer wieder öffentlich gedemütigt hat. Etwa damit, die 551 kritischen Fragen zu der staatlichen Finanzierung von NGOs aufgeben zu müssen. Und weil ihm vielleicht sozialdemokratische Abgeordnete die Niederlage im ersten Durchgang zur Kanzlerwahl verpasst haben.
Fürs konservative Gemüt wäre es kurzfristig gut, wenn der Christdemokrat endlich damit anfangen würde, sich gegen die Sozialdemokraten zu wehren. Doch fürs Land wäre es mittel- und langfristig verheerend. Es würde die Probleme vertiefen, den Zweifel der Bürger stärken und den Mehltau verdicken, der ohnehin schon über Deutschland liegt.
Eine Reform des Bürgergelds, die sich mit der reinen Symbolik einer Namensänderung begnügen würde, ließe die Kosten in Städten und Gemeinden weiter explodieren. Normalverdiener würden weiter die Ungerechtigkeit erleben, von ihrem Fleiß und ihrer Mühe nicht mehr zu haben als ein Langzeitarbeitsloser. Und mit dem Kasperletheater um inszenierte Scheinlösungen lässt sich sowieso nur noch der harte Kern der Zuschauer des Staatsfernsehens unterhalten – die anderen lässt das ziellose Theater rat- und hilflos zurück. Was auch immer das bewirken mag. Die von Merz und Söder gewünschte Aufbruchstimmung wird es nicht sein. Dann sehen die beiden bald aus wie müde, alte Ritter, die verzweifelt hoffen, ihren Heiligen Gral doch noch zu finden.