
Wieder ein Messer. Wieder ein Täter, der eigentlich gar nicht frei hätte herumlaufen oder überhaupt nicht mehr hätte hier sein dürfen. Wieder eine Gesellschaft im Reflex. Wir müssen jetzt reden – über toxische Männlichkeit. Auch, oder gerade weil der Täter in Hamburg diesmal eine Frau war, was ja bekanntlich die Ausnahme darstellt, die lediglich die Regel bestätigt.
Dass sich ihr ausgerechnet ein Syrer in den Weg stellte, lässt die Champagnerkorken knallen und ideologie- und moraltrunken den impliziten Widerspruch überrollen.
Die Reaktion auf die dramatisch zunehmenden Gewalttaten folgt einem festen dramaturgischen Muster. Man betrauert die Opfer, aber vermeidet jede ehrliche Debatte darüber, auf welche Verhältnisse wir hier eigentlich zusteuern. Man deutet um, rationalisiert, verschiebt. Wenn der Täter ein Migrant ist, wird die Diskussion ins Abstrakte gelenkt. Die ethnische, kulturelle, religiöse oder aufenthaltsrechtliche Dimension der Tat? Tabu. Es wird getwittert, gewarnt, appelliert. Neue Awareness-Kampagnen entstehen, neue Beratungsstellen, neue Empathieformate, neue Integrationsangebote. Was nicht folgt, sind vernünftige Konsequenzen.
Und so wird nach jedem Unglück die immergleiche Choreografie aufgeführt: Schock, Betroffenheit, Aktionismus – und zwar nicht irgendeiner, sondern maximal blinder und tunlichst sinnfreier. Der Mensch, von rationaler Risikoabwägung und häufig auch den Folgen seiner desaströsen Fehlentscheidungen völlig überfordert, greift zum Ersatzprogramm. Die Psychologie nennt das Handlungsbias. Man tut etwas. Irgendetwas. Hauptsache, es vermittelt das gute Gefühl, Kontrolle zurückzugewinnen. Ein Gefühl, das mit der Realität allerdings häufig so viel Ähnlichkeit hat, wie ein Apfel mit dem Eiffelturm.
Kombiniert wird er gern mit der sogenannten Verfügbarkeitsheuristik: Was gerade passiert ist, wird als besonders wahrscheinlich empfunden, zumal spektakuläre Ereignisse überproportional präsent im Gedächtnis verbleiben. Deshalb werden nach einem Flugzeugabsturz panikartig Flüge storniert– am besten genau dieselbe Route, bei genau derselben Airline. Denn wo’s schon einmal gekracht hat, kracht’s bestimmt gleich nochmal. Wer braucht schon Statistik, wenn man ein Bauchgefühl hat? Die Missachtung von Basisraten sorgt zudem dafür, dass wir uns vor Ereignissen fürchten, die aller rechnerischen Voraussicht nach so schnell nicht (wieder) eintreten.
Besonders schön zeigt sich diese Mischung aus Affektlogik und symbolischem Aktivismus im politischen Raum. Nach einer Amokfahrt? Betonpoller! Möglichst viele! Möglichst dort, wo mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein zweites Mal je wieder ein Anschlag verübt wird, siehe Breitscheidplatz. Nach einer Messerattacke? Waffenverbotszonen! In Bahnhöfen, Parks, Schulhöfen. Besonders zwischen 22 und 6 Uhr dürfen vielerorts keine spitzen oder scharfkantigen Gegenstände mehr mitgeführt werden, was so manchen Kleinkriminellen bis hin zum ausgewachsenen Gewalttäter wohl schon dazu gebracht haben dürfte, sein Leben gründlich zu überdenken und eine Laufbahn im Benediktinerkloster ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Nicht.
In diesem rein performativen Signalwirkungs-Akt demonstriert der Staat Handlungsfähigkeit, wo er faktisch keine hat. Das simulierte Sicherheitsgefühl wird zum Ersatz für Sicherheit selbst. Wohlwissend oder auch nur unterbewusst vermutend, dass der Bürger sich an dergestalt irrationalen Strohhalmen festklammert.
Natürlich dürfen neben geheuchelten Betroffenheits-Tweets und -Ansprachen auch die Pilgerfahrten nicht fehlen: Am besten noch während Rettungskräfte Schwerverletzte versorgen oder Trümmer beiseiteschaffen, tritt das mandatstragende Betreuungspersonal auf. Staatsmännisches Kopfschütteln, betretene Gesichter, gestörte Abläufe, und das alles auf Steuerzahlerkosten. Pressefotos mit Kerze oder Kranz inklusive. Es wird Beileid ohne jede praktische Relevanz ausgedrückt, wo Kompetenz gefordert wäre und dabei bestenfalls noch nutzlos im Weg herumgestanden.
Diese ritualisierte Bestürzung dient dabei der Schuldabwehr. Statt Rücktritten oder Einsichten kommt es zu neurotischen Kompensationshandlungen. Denn insgeheim ahnt man: Diese Tat war nicht nur tragisch, sondern womöglich auch indirekt mitverursacht. Durch Weichenstellungen, die man selbst vorgenommen, verteidigt, moralisch aufgeladen hat. Die Vorstellung, dass der „Einzelfall“ eine strukturelle Folge ist, wäre unerträglich. Also muss er umcodiert werden: in Männergewalt, soziale Verrohung oder einen psychischen Ausnahmezustand, für den niemand belangt werden kann. Die Verantwortung wird vertikal verschoben: nach oben, zu einem abstrakten „System“, einer „versagenden Gesellschaft“ oder einem möglichst diffusen Bösen (Kapitalismus, Kolonialismus, Patriarchat). Und sie wird horizontal umgeleitet: auf die Kritiker. Wer fragt, wird der Hassrede und Spaltung bezichtigt und will „unsere Werte angreifen und unsere Demokratie abschaffen“.
Was hier wirkt, ist nicht bloß Feigheit und Charakterschwäche, sondern eine vielschichtige psychodynamische Architektur – ein Ensemble aus unbewussten Abwehrmechanismen, wie sie Sigmund Freud et al. beschrieben haben. Der Staat, die Parteien, viele Medienakteure und systemtreue Anhänger agieren hier wie ein innerlich zerrissenes Ich, welches seine Schuld und Angst nicht erträgt und sich daher mit psychischen Kunstgriffen zu entlasten versucht. Ob Verdrängung und Verleugnung („Das hat nichts mit dem Islam zu tun.“), Projektion (negative Selbstwahrnehmungen werden auf äußere Gegner wie „rechte Hassredner“ verlegt) bis hin zu Rückfall in frühkindliche, magische Denkmuster. Wenn wir nur oft genug #wirsindmehr posten, nur genügend Vielfalt feiern und Kriminalstatistiken umdeuten, wird sich das Problem schon in Wohlgefallen auflösen. Die Nennung von Vornamen, Herkunft etc. würde, statt Transparenz zu schaffen, nur Vorurteile schüren, wie das Magazin Stern seinem Leser unter die zur Genüge an ebendieser herumgeführten Nase reiben möchte.
Dabei sind Vorurteile einerseits wesentlich besser als ihr Ruf und im Ursprung nichts anderes als eine Überlebenstechnik: ein Frühwarnsystem, das nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Effizienz getrimmt ist. Wer in der Savanne lange abwägt, ob das Rascheln im Busch ein Leopard oder nur der Wind ist, hat verloren. Das Gehirn rechnet lieber mit dem Schlimmsten – und liegt damit oft richtig. Oder ist wenigstens nicht tot. Eine in diesem Falle sehr nützliche Heuristik, die Komplexität reduziert. Daniel Kahneman hat daraus einen Bestseller über Denkfehler gemacht. Gerd Gigerenzer hingegen betont: Viele dieser scheinbaren Fehler sind in Wahrheit gar keine – sie funktionieren im echten Leben häufig besser als jede akademische Risikoanalyse. Wer etwa bei Nacht einem Grüppchen entgegenkommt, das lautstark in einer ihm fremden Sprache debattiert und dabei den kompletten Bürgersteig beansprucht, wird kaum eine deliberative Diskursabstimmung mit sich selbst führen. Er wird die Straßenseite wechseln. Intuitiv. Präventiv. Und ganz ohne rassistische Voreingenommenheit.
Andererseits sind zusätzliche, nüchterne Information zur Entscheidungsfindung und gesamtgesellschaftlichen Problemerkennung und dessen Lösung bisweilen äußerst hilfreich. Es hat nichts mit Alarmismus oder einem Generalverdacht zu tun, zu wissen, ob ein Tötungsdelikt ein Beziehungsdrama oder ein Ehrenmord ist. Ob ein Täter „nur“ kriminell ist oder ideologisch motiviert handelt. Ob ein Jugendlicher aus einem archaischen Rachekodex heraus zuschlägt oder weil ihm die Playstation weggenommen wurde. Wer das gleichmachen, totschweigen oder unterschlagen will, betreibt keine Aufklärung, sondern Infantilisierung und Volksverdummung.
Und umfangreiche, individuelle Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wenn man sich im öffentlichen Raum bewegt, so wie von Birgit Kelle hier sehr eindrücklich beschrieben, ist leider ohnehin unumgänglich geworden. Vor allem aber um einiges empfehlenswerter, als sich auf hilflose Verbotshinweise, Sicherheitskonzepte und Relativierungsergüsse zu verlassen, im besten Deutschland aller Zeiten.