
Die Normalisierung von Messergewalt in Deutschland ist abgeschlossen. Politiker gehen nach Messerangriffen nicht mal mehr zur Tagesordnung über – Messerangriffe sind an der Tagesordnung. Da muss man nichts zu sagen, man würde sich ja auch nur den Mund fusselig reden. Statt in Bielefeld am Tatort eines Messeranschlags Anteil- oder wenigstens Kenntnisnahme zu zeigen, feiert NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in Köln den Aufstieg des FC. Es war ja auch nichts Wichtigeres, um das man sich hätte kümmern müssen.
Vielleicht geht es Hendrik Wüst auch einfach wie vielen von uns: Seit Jahren stumpft der stete Tropfen an Berichten über Messeranschläge, Messermorde und andere Delikte ab. Man hat sich an solche Taten gewöhnt. Und man erinnert sich eh nur noch grob an die mechanischen Bausatz-Statements, die es schon von Scholz und Faeser gab.
Ein Mann allerdings wollte da anders sein, oder tat zumindest so: Friedrich Merz. Nach dem Anschlag in Solingen etwa sagte er aus dem Brustton der Überzeugung heraus „Es reicht.“ – und sprach damit dem Land aus der Seele. Nach dem Angriff von Aschaffenburg stellte sich Merz empört vor die Presse und fragte im Bundestag geradezu pathetisch, was denn noch passieren müsse. Er und seine Union kamen aus dem Verurteilen, dem Aufrufen und dem Schimpfen gar nicht mehr heraus.
Und jetzt? Nach Bielefeld schwieg Merz wie auch sein Innenminister Dobrindt. Sie reihten sich damit ein in das große Schweigen, mit dem die alltägliche Messergewalt, nicht nur die Taten von eingewanderten Terroristen wie in Bielefeld, längst überdeckt werden soll. Die vergangene Woche war mal wieder eine Woche der explodierenden Messergewalt. Als Oppositionsführer war Merz noch empört über solche Zustände, jetzt schweigt er still. Obwohl – oder gerade weil – er nun selbst in der Verantwortung ist.
Merz scheint so von seiner neuen Rolle als Weltenlenker und neue europäische Kraft in der Außenpolitik ergriffen zu sein, dass er für diese Verantwortung keine Zeit findet. Auf der internationalen Bühne ist er gar nicht wortkarg. Er gibt große Exklusivinterviews in Kiew, in denen er auch viel Richtiges sagt. Er telefoniert mit Donald Trump und bereitet schon einen Staatsbesuch vor. Er demonstriert Präsenz in Brüssel und anderswo. Und er macht sich nicht schlecht – zumindest im Vergleich zu Olaf Scholz ist er schon jetzt ein Mann der passenden Worte und der wichtigen Gesten.
Merz war immer ein Außenpolitiker, er geht in dieser Rolle jetzt auch regelrecht auf. Schön und gut – aber da gibt es abseits der Sphären von europäischer und internationaler Politik noch ein Deutschland, um das man sich kümmern müsste. Ein Deutschland, das Merz aber aus dem Blick zu verlieren scheint. Er flüchtet sich geradezu in eine internationale Rolle und scheint dabei seine Verantwortung hier im Land zu vergessen. Auch ganz konkret bei sich vor der Haustür – Bielefeld ist nur eine knappe Autostunde von Merz‘ sauerländischer Heimat entfernt.
Zur gestrigen Messer-Tat in Hamburg, bei der eine Frau am Hauptbahnhof 17 Menschen niedergestochen hatte, äußerte Friedrich Merz sich immerhin. Aber es ist ein leeres Bausatz-Statement, das man nach hundert Taten hundertmal gehört hat und das so auch von Olaf Scholz hätte kommen können – oder direkt von ChatGPT. „Die Nachrichten aus Hamburg sind bestürzend. Meine Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Mein Dank geht an alle Einsatzkräfte vor Ort für ihre schnelle Hilfe.“
Angesichts eskalierender Messergewalt irgendwo zwischen Schweigen und leeren Bausatz-Statements zu verbleiben – das ist für einen Mann, der sich im Wahlkampf mit heiliger Wut über diese Zustände an die Macht empört hat, einfach zu wenig. Den gleichen Furor, mit dem Merz etwa einen Fünf-Punkte-Plan aus dem Hut zauberte, würde man sich jetzt nach Bielefeld wünschen. Wie fatal wäre es für ihn, der sich schon mit seiner Rhetorik über die Schuldenbremse an die Macht gelogen hatte, jetzt auch bei diesem Thema als Dampfplauderer ohne Rückgrat und Ehrlichkeit darzustehen! Noch ein Kredit auf seine Glaubwürdigkeit wird ihm nicht gewährt werden.