2015: Wie es wirklich zur Grenzöffnung kam

vor 16 Tagen

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Am 4. September 2015 öffnete Österreich seine Grenze zu Ungarn „vorübergehend“ für Flüchtlinge, wie man sie damals in Politik und Medien nannte. Daraus wurde das, was man heute eher als Migrationskrise beschreibt: Millionen Migranten strömten seither nach Westeuropa. Der Kontinent – zumindest dessen westliche Hälfte – hat sich dadurch für immer verändert. Ich berichtete damals für die „Welt” aus Ungarn, und hatte zuvor aus der Türkei über den Nahen und Mittleren Osten geschrieben.

Zu meinem Berichterstattungsgebiet gehörten auch Albanien und Kosovo, und im Winter 2014/15 gab es plötzlich eine große Story, die Kosovo und Ungarn verband. Tausende Kosovaren strömten über Ungarns Grenze zu Serbien, sie wollten – vor allem – nach Deutschland. Ich fuhr nach Ásotthalom, ein Grenzdorf im Zentrum dieses Dramas, und begleitete einen „Dorfwächter“ namens Vincze Szalma auf seinen täglichen Kontrollfahrten entlang der Grenze. Seine Aufgabe war es, die Polizei zu rufen, wenn er auf „illegale“ Migranten stieß – also solche, die unerlaubt über die grüne Grenze kamen.

Recht bald fanden wir auch eine Gruppe Migranten. Einer von ihnen, ein damals 23-Jähriger namens Rexhep Kurtesi, sagte mir: „Ich will nach Deutschland. Wir alle wollen nach Deutschland.“ Im Kosovo verdiene er nur 150 Euro und habe nur drei Tage frei im Monat. „Kosovo, alles Scheiße. Serbien, auch Scheiße. Deutschland, das ist gut. Da kann man arbeiten, fünf Euro die Stunde, egal ob schwarz oder nicht, es ist besser.“ Wieso Deutschland? Während des Kosovo-Krieges nahm Deutschland Kriegsflüchtlinge auf, auch Rexhep. Aber nach dem Krieg wurden sie wieder zurückgeschickt. Auch er.

Es gab noch einen anderen Hintergrund: Kosovo verhandelte seit Jahren über Visumfreiheit mit der EU, bis dahin ergebnislos (erst seit 2024 gilt für Kosovaren Visumfreiheit in den Schengenraum). Kosovaren konnten so ohne Weiteres nirgendwo hin. Da kamen Schlepper in die Dörfer und Städte und erzählten, für so und so viel Geld sei es kein Problem, etwa nach Deutschland zu gelangen.

Diese kosovarische Migrantenwelle ging durch die Medien. Auch internationale Schlepperbanden lasen die Berichte. Der zündende Funke, an dem die Story entbrannte, war der Bürgermeister von Ásotthalom, László Torockai. Er rief die ungarischen Medien herbei, auf deren Berichte folgten die internationalen Korrespondenten. Torockai, ein damals Unabhängiger, der aber mit der rechten Jobbik-Partei arbeitete, war ein guter Kommunikator mit größeren Ambitionen (er führt heute die rechte Partei „Unsere Heimat“). Er sagte Dinge wie „Hier gibt es keine Grenze, oder können Sie eine sehen?“ Er sagte mir: „Was hier passiert, ist eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Hier kommen auch Afghanen und Pakistaner durch. Man kann hier mit einer Kalaschnikow ins Land spazieren. Ach was, man kann mit einem Panzer hereinfahren und niemand würde es merken!“

Er forderte einen Grenzzaun.

Die verstärkte Polizeipräsenz auf beiden Seiten der Grenze reduzierte die Kosovaren-Migration bald deutlich. Aber derweil braute sich im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan, Pakistan, Syrien und Irak eine organisierte Völkerwanderung zusammen. Mein früherer Helfer im Irak, Bayan al Bakry, schrieb mir im Frühling 2015, er sei in Istanbul und ich solle auch kommen, denn dort seien viele aus Syrien und dem Irak, die sich alle darauf vorbereiteten, über den Balkan nach Deutschland zu gehen. Es sei eine große Story. Es war ein langer Brief in schlechtem Englisch, ich war nicht sicher, ob die Sache eine Reise wert war und ließ es am Ende bleiben. Was für ein Idiot ich war.

Mittlerweile wussten auch die westlichen Geheimdienste davon, dass eine Flüchtlingswelle im Entstehen war – das jedenfalls sagte mir Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, als ich ihn Mitte September 2015 interviewte. Kurz davor war der ungarische Grenzzaun fertig geworden – jener Zaun, den zuerst Torockai gefordert hatte. Es war nicht ganz glatt gelaufen, der zuständige Verteidigungsminister Csaba Hende wurde entlassen, weil der Zaun nicht schnell genug vorankam.

Und zwar deswegen, weil er es für eine schlechte Idee hielt, sagte er mir viele Jahre später. (Bis dahin hatte er aber eingesehen, dass der Zaun sehr wohl notwendig war.) Hende empfahl intern, die Migranten einfach nach Deutschland durchzuwinken, damit würde sich Ungarn heftige ideologische Anfeindungen aus Deutschland und Brüssel ersparen.

Nun, Hende war weg vom Fenster, und Orbán war an jenem Tag Mitte September gut gelaunt und sichtlich zufrieden. Am Ende des Interviews, als wir unsere Aufnahmegeräte schon ausgeschaltet hatten, erzählte er, wie er zu der Entscheidung gelangt war: Monatelang hatte er in Brüssel und bei den europäischen Regierungen, die alle über ähnliche Geheimdienstinformationen verfügten, darauf gedrängt, etwas zu unternehmen – irgendetwas müsse man doch tun, um der absehbaren Krise zu begegnen. „Aber als klar wurde, dass niemand sich rühren würde, entschieden wir, eben selbst zu handeln“, sagte er mir. Dafür wurde er von der EU und vielen europäischen Politikern brutal angegriffen, als habe er Europa verraten.

Technisch hätten sie sich damit des organisierten Menschenschmuggels schuldig gemacht, und Ungarn hätte sie verhaften und vor Gericht stellen müssen. Man kann sich vorstellen, was daraus für ein Medienzirkus geworden wäre. Die Telefondrähte zwischen Wien und Budapest, Wien und Deutschland, Budapest und Deutschland liefen heiß.

Wie viele Flüchtlinge seien denn da betroffen, wollten die Österreicher wissen. Angeblich gab man ihnen die Antwort: rund 4000. Da fiel die Entscheidung: vorübergehend und ausnahmsweise, so hieß es, würden die Tore geöffnet.

So richtig konnten sie nie wieder geschlossen werden, der Rest ist Geschichte. Ungarn organisierte Busse, statt 4000 waren es dann eher 20.000, die in den gelobten Westen strömten.

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