
Manchmal ist die Situation schwierig, und manchmal wird sie verkompliziert. In der europäischen Migrationspolitik ist beides der Fall. Der nicht abreißende Strom an Zuwanderern setzt den Kontinent unter Druck. Vor diesem Hintergrund gibt es Politiker wie Giorgia Meloni, die sich nach Maßnahmen umsehen, um die Lage der Einheimischen zu verbessern. Und es gibt Olaf Scholz.
Der Bundeskanzler sagte nun in Istanbul an der Seite des türkischen Präsidenten Erdoğan einen typischen Scholz-Satz: „Die Dinge sind nicht immer ganz einfach.“ Er meinte die Ausweisung von straffällig gewordenen Asylbewerbern und die rechtlichen Hürden. Diese werden von der deutschen Bundesregierung gerne als unüberwindlich dargestellt.
Bundeskanzler Olaf Scholz besucht Recep Erdoğan in Istanbul.
Man könne, heißt es dann, wenig tun, die Gesetze und Verpflichtungen gäben es nicht her. Andere Länder, andere Politiker zeigen: Wer eine Not wenden will, der muss kreativ sein – und darf die Auseinandersetzung mit Gerichten nicht scheuen. Wenn die Europäische Union sich nicht aus ihrer juristischen Selbstfesselung befreit, wird sie bald Geschichte sein. Die italienische Premierministerin Meloni hat den Ernst der Lage begriffen.
Der Bundeskanzler hingegen beharrt: „Alles, was wir tun, hat immer im Rahmen des europäischen Rechts und des internationalen Rechts zu erfolgen.“ Sämtliche Regeln müssten „natürlich ordentlich angewandt“ werden. Prinzipiell hat der Sozialdemokrat recht. In einer Demokratie darf die Regierung nicht über dem Gesetz stehen. Die Diktatur erhebt ihr Haupt, wenn die Exekutive sich ihr eigenes Recht schafft.
Das stete Beharren aber auf den juristischen Beschränkungen hat mittlerweile beschwörenden Charakter angenommen – und wird zur Universalausrede fürs Nichtstun. Regeln sind nicht in Stein gemeißelt.
28 verurteilte Straftäter wurden von der Bundesregierung Ende August nach Afghanistan abgeschoben. Jeder mit einem Handgeld von 1000 Euro.
Scholz hält sich zugute, „dass wir einen Rückführungsflug nach Afghanistan organisiert haben“. Ende August befanden sich 28 verurteilte Straftäter an Bord. Seither gab es keine vergleichbare Abschiebung. Stündlich beantragen rund fünf Afghanen Asyl in Deutschland. Scholzens Stolz auf die Tat belegt, für wie gering er seinen Spielraum hält.
Der schlichte Umstand, dass Gesetze geändert werden können, dringt offenbar nicht bis zur Bundesregierung vor. Dabei ist nicht einmal das Grundgesetz sakrosankt. Seit 1949 wurden 122 Artikel angepasst. Auch das Individualrecht auf Asyl könnte mit einer entsprechenden parlamentarischen Mehrheit eingeschränkt, reformiert oder abgeschafft werden. In einer derart angespannten Situation stellt sich auch die Frage, ob die Genfer Flüchtlingskonvention beibehalten werden sollte. Sie ist die Basis für die einzelstaatlichen Ordnungen und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs.
Die liberale Neue Zürcher Zeitung (NZZ) stellte soeben die entscheidende Frage: „War die Politik der offenen Tür für alle wirklich der Gedanke der Genfer Flüchtlingskonvention?“ Diese habe „einen ethischen Standard für Europa gesetzt, und doch stammt sie aus einer Welt vor 73 Jahren. Ohne Smartphone und Schleppernetzwerke.“ Die Konvention wollte „vor allem das Schicksal der Verfolgten des Zweiten Weltkriegs erleichtern, das Protokoll von 1967 weitete den Kreis der Verfolgten auf die ganze Welt aus.“ Der Autor folgert: „Die Idee war die individuelle Gewährung von Asyl, die vorübergehende Betreuung von Flüchtlingen bei bewaffneten Konflikten – keine fortgesetzte Masseneinwanderung aus Afrika, Asien, Nahost nach Europa.“
Das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, wie die Genfer Flüchtlingskonvention genau heißt, wurde am 28. Juli 1951 verabschiedet.
So ist es. Der NZZ-Autor hält letztlich an der Flüchtlings- und Menschenrechtskonvention fest, fordert aber eine neue migrationspolitische Härte: „Die konsequente Auslagerung von Asylverfahren in Länder außerhalb der EU ist die Lösung. Kein Asylentscheid auf dem Boden der EU, und bei Ablehnung folgt die Ausschaffung in ein Lager.“
In der EU dreht sich der Wind in diese Richtung. Das neue Europäische Asylsystem sieht solche Verfahren zumindest an den Außengrenzen der EU vor. Das wird nicht reichen, um die illegale Migration zu stoppen. Nur wer europäischen Boden gar nicht erst betritt, stellt bei einer Ablehnung seines Asylgesuchs keine Herausforderung dar für den Rechtsstaat, für die Polizei und für die Bevölkerung.
In Deutschland erklären die Grünen unverdrossen: „Wir stehen für eine Flüchtlings- und Integrationspolitik, in der der einzelne Mensch zählt. (…) Wir kämpfen gemeinsam weiter für ein faires, funktionierendes EU-Asylsystem, in dem der einzelne Mensch zählt. (…) Das Grundrecht auf Asyl, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention werden wir stets verteidigen.“ Ein solcher Kampf ist das gute Recht der Grünen. Nur ist ein weltliches Gesetz kein Götterspruch. Bevor Europa in der Migration kollabiert, sollte es sich neue, wehrhafte Regeln geben. Vielleicht muss auch die Grundrechte-Charta geändert werden.
Einflussreiche Grüne: Annalena Baerbock und Robert Habeck.
Die Regierungen von Polen und Italien haben die neuen Zeiten begriffen. Deutschlands östlicher Nachbar hat eine Mauer an der Grenze zu Weißrussland errichtet. Premierminister Donald Tusk will das Recht auf Asyl vorübergehend aussetzen. In Italien lässt Giorgia Meloni sich nicht von einer juristischen Niederlage einschüchtern. Gerade hat ein römisches Gericht es der Regierung untersagt, männliche Asylbewerber aus Bangladesch und Ägypten in Albanien unterzubringen. Dennoch will Meloni weiterhin Asylverfahren außerhalb der EU durchführen lassen. Das Kabinett sucht nach neuen Wegen.
Giorgia Meloni mit Donald Tusk im Europaparlament.
Die italienischen Richter bezogen sich auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Und sie wiesen darauf hin, dass Bangladesch und Ägypten zwar von Italien, aber nicht von der EU als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden. Die Asylverfahren müssten in Italien stattfinden. Melonis Regierung will Berufung einlegen. Außerdem soll mit einem Dekret eine aktualisierte Liste mit sicheren Herkunftsländern vorgelegt werden.
Meloni ringt. Scholz resigniert. Italien bewegt sich. Deutschland zieht den Kopf ein und hofft, das Ungewitter möge vorüberziehen. Wem Europa aber ebenso am Herzen liegt wie das eigene Land, der muss den Mut aufbringen, die Migrationspolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wehrhafte Grenzen statt unbegrenzter Willkommenskultur sind das Gebot der Stunde.
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