
Am 1. April sollen in England und Wales neue Sentencing Guidelines in Kraft treten – verbindliche Richtlinien für die Strafzumessung bei Straftaten. Doch die neuen Guidelines haben eine heftige politische Kontroverse ausgelöst: Denn sie könnten zu einer Ungleichbehandlung vor Gericht führen.
Die überarbeiteten Strafzumessungsrichtlinien empfehlen Richtern und Magistraten, bei bestimmten Gruppen – darunter ethnische, kulturelle oder religiöse Minderheiten, junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren, Frauen und schwangeren Frauen – verstärkt sogenannte Pre-Sentence Reports zu berücksichtigen, bevor eine Haftstrafe verhängt wird. Bei diesen Pre-Sentence Reports handelt es sich um detaillierte Berichte über die persönlichen Umstände eines Angeklagten. Richter werden also bei „besonders gefährdeten Gruppen“ angewiesen, vor einer Haftstrafe zu prüfen, ob biografische oder soziale Faktoren eine Rolle gespielt haben könnten, und dies im Strafmaß zu berücksichtigen. Entwickelt wurden die neuen Richtlinien nicht von der Regierung, sondern von einem unabhängigen Gremium, dem Sentencing Council.
Die persönlichen Umstände sollen also bei ausgewählten Gruppen stärker berücksichtigt werden als bei anderen. Während Befürworter diesen Schritt als längst überfällige Maßnahme zur Bekämpfung struktureller Ungleichheiten sehen, warnen Kritiker vor einer gefährlichen Aufweichung des liberalen Rechtsstaatsprinzips, die eine Zwei-Klassen-Justiz etablieren könnte.
Keir Starmer sieht die neuen Regelungen durchaus kritisch.
Das britische Rechtssystem beruht traditionell auf der Gleichheit vor dem Gesetz – einem Grundpfeiler liberaler Demokratien. Doch in den letzten Jahren setzt sich zunehmend die Auffassung durch, dass Gerichte eine Rolle bei der Kompensation sozialer Ungleichheiten spielen sollten. Ein zentraler Impuls für diese Entwicklung kam im Jahr 2017 vom Lammy Review, einer Untersuchung der britischen Regierung, die erhebliche Unterschiede in der Strafzumessung zwischen ethnischen Gruppen aufzeigte. So zeigte die Analyse, dass schwarze Angeklagte häufiger Gefängnisstrafen erhalten als weiße, selbst bei vergleichbaren Delikten. Allerdings zeigten spätere Analysen, dass auch andere Faktoren eine Rolle spielen, etwa Vorstrafen oder sozioökonomische Hintergründe.
Die neuen Sentencing Guidelines sollen dieser statistischen Ungleichheit entgegenwirken. Ähnliche Ansätze existieren bereits in anderen Ländern. In Kanada wird seit 1999 das Gladue-Prinzip angewendet, um indigene Angeklagte milder zu bestrafen. In den USA setzen sogenannte progressive prosecutors gezielt auf Strafmilderungen für bestimmte Gruppen, um historische Ungleichheiten auszugleichen.
Diese Entwicklung steht exemplarisch für einen ideologischen Wandel, den der Politikwissenschaftler Eric Kaufmann als „Cultural Socialism“ beschreibt. In seinem Buch „Taboo: How Making Race Sacred Produced a Cultural Revolution“ analysiert Kaufmann, wie progressive Dogmen klassische liberale Prinzipien untergraben, insbesondere in den Bereichen Recht, Bildung und Verwaltung. Das zentrale Spannungsfeld zeigt sich im Wandel von equality – der Gleichheit vor dem Gesetz – zu equity, einer Gerechtigkeit, die auf Ergebnisgleichheit abzielt. Die neuen Sentencing Guidelines illustrieren genau diesen Übergang: Statt alle Angeklagten nach denselben Maßstäben zu bewerten, sollen nun soziale Hintergründe und strukturelle Benachteiligungen in die Urteilsfindung einfließen.
Eric Kaufmann argumentiert, dass Cultural Socialism die individuelle Verantwortung durch eine kollektivistische Logik ersetzt. Im Falle der neuen Sentencing Guidelines sollen nicht mehr allein die Tat für das Strafmaß entscheidend sein, sondern auch die gesellschaftliche Position des Täters. Damit wird der Staat nicht mehr nur als neutraler Schiedsrichter verstanden, sondern als Akteur zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Identitätspolitische Kategorien treten an die Stelle der klassischen liberalen Prinzipien.
Die Hauptkritik an den neuen Sentencing Guidelines konzentriert sich auf drei Punkte: Erstens sollte das Strafrecht sich auf die Tat und nicht auf die Identität des Täters konzentrieren. Wenn zwei Menschen dasselbe Verbrechen begehen, sollten sie auch dieselbe Strafe erhalten. Zweitens könnte die explizite Differenzierung nach Identitätsmerkmalen den Weg für eine tiefere Politisierung der Justiz ebnen, indem es Präzedenzfälle für weitere identitätsbasierte Strafmilderungen schafft. Drittens bleibt der tatsächliche Nutzen solcher Maßnahmen unklar. Während einige Studien nahelegen, dass individuellere Strafzumessungen die Rückfallquoten senken, warnen andere vor einem erhöhten Risiko der Straflosigkeit.
Die Reform stellt die britische Labour-Regierung vor ein Dilemma. Einerseits stammen viele der ideologischen Grundlagen dieser Reformen aus dem linken politischen Spektrum, insbesondere aus den Justizreformen und Gleichstellungspolitiken, die von Labour-nahen Akteuren in Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft vorangetrieben wurden. Andererseits scheinen Starmer und seine Regierung nun zu erkennen, dass ein solches System nicht nur politisch unhaltbar, sondern auch gesellschaftlich gefährlich wäre. Premierminister Keir Starmer und Justizministerin Shabana Mahmood hatten sich zuletzt durchaus kritisch zu den neuen Richtlinien geäußert: Starmer betonte, er sei „äußerst enttäuscht“ und dass „alle Optionen auf dem Tisch“ lägen, um ein Zwei-Klassen-System zu verhindern.
Justizministerin Shabana Mahmood besucht ein Gefängnis.
Die Regierung Starmer hat nun reagiert und plant, noch in der kommenden Woche einen Gesetzentwurf einzuführen, der die Richtlinien kippen könnte. Justizministerin Mahmood hatte bereits zuvor empfohlen, die neuen Richtlinien zurückzunehmen, kann dies jedoch nicht anordnen, da der Sentencing Council unabhängig ist. Um diesem Problem zu begegnen, wird ein Notfallgesetz vorbereitet, das den Richtern vorschreiben würde, die Empfehlungen des Sentencing Council zu ignorieren. Obwohl der Gesetzesentwurf wahrscheinlich nicht mehr vor dem Inkrafttreten der Richtlinien am 1. April verabschiedet werden kann, hofft Mahmood, ihn noch am kommenden Dienstag im Parlament einbringen zu können.
Mahmood hatte zuletzt ihr „Missfallen“ über die Empfehlungen des Sentencing Council ausgedrückt und begründete dies auch mit ihrer persönlichen Perspektive: „Als jemand, der selbst aus einer ethnischen Minderheit stammt, stehe ich nicht für eine Ungleichbehandlung vor dem Gesetz.“ Weiter sagte sie: „Ich habe klargemacht, dass diese Richtlinien eine Ungleichbehandlung darstellen, bei der das Urteil durch Ethnie, Kultur oder Religion beeinflusst werden könnte.“ Währenddessen wächst der öffentliche Druck, denn in Umfragen zeigt sich, dass eine Mehrheit der Briten eine Ungleichbehandlung von Straftätern ablehnt.
Die neuen Sentencing Guidelines sind mehr als nur eine juristische Reform – sie sind ein Symbol für einen grundlegenden ideologischen Konflikt. Die klassische Idee der Gleichheit vor dem Gesetz steht zunehmend im Wettbewerb mit einem Verständnis von Gerechtigkeit, das auf Ergebnisgleichheit abzielt.
Sollte Labour die Richtlinien tatsächlich überarbeiten, könnte dies als Rückkehr zu traditionellen Prinzipien der Strafzumessung gewertet werden. Sollte sie hingegen an ihnen festhalten, würde sich ein Präzedenzfall für eine identitätsbasierte Justiz etablieren.
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