
Das Land ist gespalten. Ob bei Themen wie Migration, Corona oder gesellschaftliches Engagement: Immer schneller kommt es zum Streit, eskaliert ein Gespräch, eine Diskussion. Die Zündschnur ist heute überall sehr kurz ...
Doch leider geraten dabei auch immer mehr Kinder zwischen die Fronten der Erwachsenenwelt. Im Freundeskreis, im Verein oder in der Schule – nicht jedem gefällt, was Eltern so denken, wo sie sich engagieren oder bei wem sie arbeiten. Das bekommen auch die Jüngsten immer mehr zu spüren, wie die Kinder- und Jugendtherapeutin Miriam Hoff jetzt in einem Gespräch mit NIUS berichtet.
„Der psychische Haltungs-Konflikt, dem Kinder immer mehr ausgesetzt sind, hat sich seit Corona sehr verstärkt und wird vermutlich auch noch einige Zeit anhalten.“ Schon jetzt sind 20 Prozent der jungen Menschen von psychischen Störungen betroffen, Tendenz stark steigend.
Ein bisher wenig thematisierter Aspekt dabei ist der gesellschaftliche Druck, der auf Kindern lastet, wenn das Ansehen ihrer Eltern bei Lehrern, Mitschülern oder wiederum deren Eltern aus politischen Gründen oder Vorurteilen negativ belastet wird.
Denn: „Eltern sind in diesem Alter die Erweiterung der eigenen Identität. Kinder identifizieren sich am stärksten mit ihnen. Die Reflexionsfähigkeit ist noch nicht so weit entwickelt, dass sie sowas kritisch hinterfragen können. Es ist in dieser Zeitphase für sie ungemein wichtig, dass die eigenen Eltern im Umfeld, in der Gesellschaft gut ankommen. Wenn das nicht der Fall ist, entstehen oft starke Selbstzweifel. Sogar Schuldgefühle können entstehen. Das Kind gerät in starke innere Konflikte. Es beginnt ein langsamer Prozess des Abgrenzens“, so die Therapeutin.
Ihrer Ansicht nach sollten Lehrer und Eltern daher noch stärker darauf achten, sich selbst einzig auf die Kernaufgabe Pädagogik zu beschränken, und auf Politik sowie die Thematisierung des familiären Umfeldes grundsätzlich verzichten.
„Gerade von Lehrern sollte gefördert werden, dass junge Menschen ihre eigene Meinung äußern, eine offene Diskussion möglich ist und dass jedem in einem Rechtsstaat und in einer Demokratie beigebracht wird, auch anders denken zu können oder auch mal abzuweichen.“
Doch die Realität zeigt: So einfach ist es offenbar für viele Verantwortungsträger nicht, den Kindern Selbstverständlichkeiten wie Neutralität, Toleranz und Unvoreingenommenheit auch tatsächlich vorzuleben.
Mit verheerenden Folgen für die betroffenen Schüler, so die Therapeutin: „Je nach Schüler kann es zu Einschlaf- und Konzentrationsstörungen oder sogar zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen kommen, also ähnliche Symptome wie beim Mobbing. Eben aus Angst vor Wertung und nicht dazuzugehören.“
Hoffs Empfehlung für Eltern ist daher, die ersten Anzeichen dieser oftmals subtilen Entwicklungen frühzeitig ernst zu nehmen und sofort auf die Aussagen des eigenen Kindes zu reagieren: „Zuerst einmal das Kind wertschätzen, dass es sich überhaupt den eigenen Eltern öffnet und darüber spricht, was es fühlt und bewegt.“ Es sei dann wichtig, dem eigenen Kind zu vermitteln, dass seine wahrgenommenen Eindrücke, Empfindungen und Meinungen in der Schule eben nur eine von vielen legitimen Ansichten sind, und dass dies eben auch ein normales Beispiel von Vielfalt ist. Am besten sei es, die Kinder bereits präventiv, also ohne Vorkommnisse auf solch potenzielle Situationen und Momente vorzubereiten. Zum Beispiel: Irgendwann könnte es passieren, dass jemand dieses oder jenes an dir, deinen Eltern oder deiner Familie nicht gut findet. Damit bringt derjenige dann aber lediglich seine Meinung zum Ausdruck. Das bedeutet nicht, dass er auch recht hat.
Damit verbunden sollten Eltern ihren Kindern immer wieder verdeutlichen (und auch vorleben), dass es vollkommen legitim ist, eine eigene Meinung zu haben und zu äußern – auch wenn diese von der der eigenen Eltern abweicht.
Auch deeskalierende Möglichkeiten könne man hier dem Kind aufzeigen, so die Therapeutin. Es habe nämlich jederzeit das Recht im höflichen Ton zum Beispiel zu entgegnen: „War diese Bemerkung jetzt notwendig? Was haben meine Eltern hiermit zu tun? Warum werden sie hier und jetzt thematisiert?“
Zusätzlich könnte das Kind in solchen Situationen auch darauf hinweisen, dass es das Verhalten gerade nicht angebracht empfindet, zum Beispiel so: „Ich finde das jetzt ein bisschen unfair. Ich möchte, dass Sie das einfach einmal mit meinen Eltern besprechen.“
Auf keinen Fall sollte das Kind jemals das Gefühl haben, nichts sagen zu können oder gar zu dürfen, da es sich um einen Lehrer oder den Vater der Freundin handelt.
Ein ähnliches Vorgehen würde sie auch empfehlen, wenn Kinder Probleme wegen ihrer eigenen Meinung oder ihren Informationsquellen bekommen, die bei manchen Lehrern oder auch Klassenkameraden vielleicht anders betrachtet oder gar abgelehnt werden. Ideal sei es, wenn das Kind vermitteln kann: „Das ist meine Ansicht. Ich akzeptiere, dass ihr es anders seht. Bitte akzeptiert aber auch meine Betrachtung“, so die Psychotherapeutin.
Schwierig kann es zudem werden, wenn die Schule politische Aktivitäten für Schüler organisiert, die konträr zu den Werten des Kindes oder des Elternhauses stehen, wie etwa Klimaaktionen, Flüchtlingsengagements oder gar Aktionen gegen einzelne Parteien. Da gäbe es für die Kinder die Möglichkeit zu sagen, „dass ich ein komisches Gefühl habe, aber ich akzeptiere euer Engagement“. Also dass das Kind nicht zu derselben Haltung gezwungen wird, aber Offenheit, Toleranz und die Akzeptanz von anderen Meinungen zeigt. Es sei falsch, wenn man Kinder zu etwas zwingt.
Hier sieht sie aber insbesondere auch die Schulen in der Verantwortung. Diese sollten die Kinder gar nicht erst in solche Situationen bringen, oder mindestens eine diskriminierungsfreie Freiwilligkeit sicherstellen.
Ihr neues Buch „Therapie für die Seele“ ist am 28. April 2025 erschienen.
Miriam Hoff empfiehlt aber auch, gemeinsam mit dem Kind sensibel eine Balance zu finden, eine Sozialkompetenz beim Kind aufzubauen: „Es sollte parallel eine gewisse Empathie entwickelt werden, bei der das Kind auch realisieren kann, in welchen Situationen, in welcher Gruppe es manchmal vielleicht besser sein kann, etwas nicht zu sagen. Eine Meinung kann man immer haben, aber muss ich sie auch stets – und gerade in diesem Moment – wirklich laut sagen oder immer wieder von selbst eine kontroverse Thematik beginnen? Besonders wenn ich spüre, eine große Mehrheit sieht das anders als ich. Da sollten Kinder auf ihr Bauchgefühl hören. Denn: Jedes Kind, jeder Jugendliche möchte und muss integriert sein, möchte dazu gehören. Isolation kann nämlich auch nicht das Ziel sein.“
Ihr ist wichtig, dass die Kinder auf die derzeitige Atmosphäre in der Gesellschaft vorbereitet sind. „Es wäre fatal, wenn man den Kindern das Thema Spaltung im Land vorenthält.“
Die Elterngeneration selbst betrachtet die Therapeutin indes als nicht ganz unschuldig an der Situation. Viele Eltern hätten es ihrer Ansicht nach eben nicht geschafft, Toleranz und Akzeptanz vorzuleben, wie es eigentlich in einer Demokratie, in einer gesunden Gesellschaft der Fall sein sollte. „Ja, wir haben eine Spaltung und nun müssen wir lernen, damit umzugehen und zukünftigen Generationen auch wieder selbst emphatischen Umgang vorleben“, meint Hoff.
***Miriam Hoff (geboren 1975 in Taunusstein) ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Frankfurt Sachsenhausen.