Braucht man in einer moralvergifteten Gesellschaft die Notlüge zum Überleben?

vor etwa 5 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

Ein erwachsener Sohn besucht aus der Ferne seine Eltern. Die Beziehung zwischen ihnen ist distanziert, aber man ist noch im Kontakt und trifft sich an Feiertagen. Jetzt spricht der Sohn ein heißes Eisen an: Er mache sich Sorgen, dass seine Eltern politisch verloren seien und die AfD wählen würden. Das wäre für ihn unerträglich und nicht auszuhalten. Ein Kontaktabbruch steht im Raum.

Die beiden Eltern, die seit einigen Jahren aus Überzeugung die AfD wählen, die aber auf keinen Fall ihren Sohn verlieren wollen, wiegeln ab und lügen sich heraus: Sie fänden ja nicht alles schlecht, was die AfD anspricht, aber da gäbe es auch ein paar schlimme Dinge und deshalb hätten sie „Bündnis Deutschland“ oder „die Basis“ gewählt.

Der Sohn gibt sich damit einigermaßen zufrieden. Es reicht für ein Weiter-so in der Familie. Darüber sind die Eltern erst einmal froh. Die Ideale eines intensiven und ehrlichen Familienzusammenhalts haben sie sich in den letzten Jahren abgeschminkt. Heute sind sie bereits bei „Millimeter-Erfolgen“ erleichtert.

In einer moralistischen Gesellschaft werden die Menschen „gesichert“ in Schwarz und Weiß aufgeteilt, in Gut und Böse, in Demokraten und Extremisten, in Haram (= unrein) und Halal (= rein). Bei solcher Hypermoral wird es zwangsläufig zu Dilemma-Situationen kommen, in denen die Notlüge attraktiv erscheint. Ein Zuviel an Moral (= „Hypermoral“) zerstört eine Gesellschaft genauso wie ein Zuwenig an Moral.

Da ist der katholische Kollege und Priester, der mit einer Frau zusammenlebt. Natürlich ist es nur seine „Haushälterin“. Aber jeder, der nicht Tomaten auf den Augen hat, weiß Bescheid. Heuchelei und Tricksereien schienen früher hauptsächlich ein Problem der katholischen Kirche mit ihrem rigiden Zölibat zu sein. Heute ist es gesellschaftlicher Alltag.

Was wurde auf den Fußball-Bundesliga-Trainer Markus Anfang geschimpft. Er war ungeimpft und hatte sich widerrechtlich einen Impfausweis organisiert. Als das rauskam, schlug die Stunde der Moralisten: „Lüge, Urkundenfälschung, Betrug, Versager, katastrophales Vorbild.“ Aber haben sich die Moralisten auch einmal selbstkritisch hinterfragt, ob es nicht gesellschaftszersetzend war, gegen eine überdramatisierte Krankheit einen experimentellen Impfstoff mit umstrittenem Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil unbedingt allen Menschen aufzwingen zu wollen und damit ein verlogenes Klima im Land herbeizuführen? Denn auch das kann man als Notlüge bezeichnen, wenn viele Menschen sich nur haben impfen lassen, um wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, obwohl sie die Impfung für sich eigentlich unnötig fanden oder gar abgelehnt hatten.

Im Internet treten viele Menschen unter Pseudonym auf. Auch eine Art Notlüge. Wenn man erlebt hat, wie der Chef einen wegen irgendeines lächerlichen Tweets zum Verhör einbestellen ließ, dann darf man sich nicht wundern, wenn verantwortliche Menschen zum Mittel der Anonymität greifen. Hartmut Steeb, ehemaliger Generalsekretär der Evangelischen Allianz, der sich für das Recht auf Leben einsetzt, hatte jetzt sein Haus besprüht mit den riesigen Lettern „Steeb = Frauenhasser“; sein Briefkasten voll mit Dämmschaum. Ein hoher Preis für seinen Glauben, seine Aufrichtigkeit und seine demokratische Meinungsäußerung. „AyaVelazquez“, die die RKI-Files zugespielt bekam und diese dann sogleich transparent veröffentlicht hatte, schreibt, dass sie anonym unterwegs sei, allein schon um ihre Familie zu schützen.

Es gibt nur einen Weg zu mehr Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit: weniger Moralvergiftung. Solange Bundespräsident, Verfassungsschutz, Wirtschaft, Kirchen, Kunst und ÖRR-Böhmermann im Stechschritt die Moralschraube mit aller Macht anziehen, bleibt der gesellschaftliche Diskurs vergiftet.

Als Pfarrer respektiere ich menschlich-allzumenschliche Notlügen und Notlösungen im Umgang mit der Moralfalle. Sie sind nur die Metastasen einer tieferliegenden Krankheit. Wir brauchen mehr Weite in unseren Familien, Kirchen, auf der Arbeit und im politischen Diskurs. Wir brauchen mehr Offenheit, mehr Zwischentöne, mehr Abwägung, mehr Freiheit, mehr geistige Vielfalt. „Leben und leben lassen“.

Notlügen mögen ein Verstoß gegen die Zehn Gebote sein; aber das eigentliche Problem ist die verlogene Gutmenschlichkeit, die so etwas wie Notlügen notwendig macht.

„Wehe euch, ihr Pharisäer, die ihr die Becher und Schüsseln von außen reinigt, aber innen sind sie voller Einverleibung und Gier. Du blinder Pharisäer, reinige zuerst das Innere des Bechers, dann wird auch das Äußere rein“ (Jesus Christus in Matthäus 23,25-26).

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