Mündige Bürger brauchen keine Wahrheits-Wächter: Wie der Schriftsteller Ferdinand von Schirach die freie Rede verrät

vor 6 Monaten

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Der erfolgreiche deutsche Schriftsteller Ferdinand von Schirach hat sich zu Wort gemeldet. Sein Kommentar, das lässt er den Leser sofort spüren, ist nicht bloß ein Text unter vielen: Sein Kommentar soll ein Ereignis sein. Erst bei WELT, dann bei BILD publiziert, als Video eingesprochen und schließlich „auf ausdrücklichen Wunsch des Autors“ für jeden zum Nachdruck freigegeben, widmet sich von Schirachs Machwerk nichts Geringerem als „Wahrheit und Wirklichkeit“.

Ferdinand von Schirachs Versuchsanordnung lautet wie folgt: „Die Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 in Israel sind in über 60.000 Videos dokumentiert. Trotzdem schenken viele Menschen Falschinformationen aus den sozialen Medien Glauben. Wie kann das sein?“

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Um seiner These Schlagkraft zu verleihen, schildert der Schriftsteller das Grauen: Er spricht von Frauen, denen in die Vagina geschossen, denen Nägel in die Oberschenkel und die Leistengegend gehämmert, von Kindern, deren Schädel abgetrennt wurden. Und trotzdem, beklagt von Schirach, seien 90 Prozent der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland überzeugt, die Hamas habe in Israel keine Gräueltaten verübt.

Gedenken an die Opfer des Hamas-Massakers, die das Nova-Musikfestivals besuchten und dort von der Hamas gequält, vergewaltigt und brutal hingerichtet wurden.

So weit, so nachvollziehbar. Doch dann kommt der Schriftsteller zu einem fragwürdigen Schluss: Die Schuld für diese Leugnung verortet er nicht etwa bei der Hamas und der iranischen Führung, die mit ihrem ausgeklügelten Propaganda-System an der gezielten Täuschung der arabischen Welt und der Dämonisierung Israels arbeiten. Auch macht er nicht die Antisemiten in Gaza, im Westjordanland, im arabischen Raum und im Westen verantwortlich, die der Terror-Propaganda bereitwillig aufsitzen, weil diese bestätigt, was sie ohnehin über Juden denken wollen.

Verantwortlich sind laut Ferdinand von Schirach ausgerechnet die sozialen Medien.

Um dies zu begründen, greift er auf Orwells Roman „1984“ zurück - und unterliegt dabei einer für einen Schriftsteller bemerkenswerten Fehlinterpretation. Heute, so von Schirach, dächten die meisten Menschen bei dem Titel des Romans an den Überwachungsstaat. „Aber eine andere Idee des Romans reicht weiter. In dem Roman verändert das ‚Wahrheitsministerium‘ die Sprache der Menschen und damit die Wahrheit.“ Die sozialen Medien aber seien weitaus mächtiger, als es ein „Wahrheitsministerium“ je sein könne. Mit einem Tastenklick würden dort Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern gemacht. „Das Gegenteil der Wahrheit wird geglaubt, wenn sie nur oft genug behauptet wird.“

Orwells „1984“ wird gemeinhin als Warnung vor einem autoritären Überwachungsstaat gelesen.

Ferdinand von Schirach schließt fulminant: „In Orwells ‚1984‘ heißt es: ‚Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der ein menschliches Gesicht zertrampelt – unaufhörlich.‘ Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.“

Seine Interpretation dieses Sprachbildes mutet geradezu lustig an. Denn natürlich ging es Orwell nie um den Stiefel. Es ging ihm um denjenigen, der den Stiefel trägt. In guter deutscher Tradition der Technophobie wendet sich von Schirach gegen das technische Instrument selbst und lässt die Akteure verschwinden, die sich dieses Instruments bedienen. So schafft er es, eines der machtkritischsten Werke der Literaturgeschichte in ein Manifest für all jene umzudeuten, die ihrer eigenen Regierung im Kampf gegen vermeintliche Desinformation als Claqueure zur Seite stehen wollen.

Das Gegenteil dessen, was von Schirach behauptet, trifft zu: Eine Lüge wird nicht glaubhafter, je öfter man sie wiederholt. Das Entscheidende ist nicht die Frequenz einer Lüge, sondern die Macht, die hinter ihr steht. Das Entscheidende ist der Preis, den jene zahlen müssen, die der Lüge keinen Glauben schenken wollen.

Im Falle des von der Hamas kontrollierten Gazastreifens liegt es auf der Hand, warum die Menschen die Lügen über das Massaker glauben: Sie werden von Kindesbeinen an durch das Terror-Regime indoktriniert, die gesamte Kultur ist durchdrungen vom Ideal des Märtyrers, der sein Leben opfert im blutigen Kampf gegen den Erzfeind Israel. Wer dagegen aufbegehrt, wird eingesperrt oder ermordet. Dass von Schirach diesen Einfluss des Regimes unterschlägt, hat – so ist anzunehmen – innenpolitische Gründe. Denn dieser Schachzug ermöglicht ihm, auch im Westen die zunehmend autoritären Bestrebungen der Regierungen zu verschleiern. So kommt sein Kommentar nicht ohne den obligatorischen Verweis auf Verschwörungstheorien aus, die er liebevoll nacherzählt:

„Die Mondlandung sei von Stanley Kubrick im Auftrag der US-Regierung inszeniert worden. Die Welt würde von Reptiloiden regiert, die sich als Menschen tarnen, wie zum Beispiel Barack Obama, die Queen oder Angela Merkel. Die Erde sei eine Scheibe. Paul McCartney sei schon lange tot, Walt Disney nur eingefroren, und Elvis lebe noch. Dann wurde es ernster. Die Terroranschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York seien von der US-Regierung selbst durchgeführt worden. Der Bevölkerung wären über den Corona-Impfstoff heimlich Mikrochips implantiert worden. Globale Eliten würden Zuwanderungsströme steuern. Putin erklärt, die Ukraine sei ein von Nazis unterwanderter Staat, der Genozid an der eigenen Bevölkerung verüben wolle. Und Donald Trump verkündet noch immer, er habe die Wahl gewonnen.“

Natürlich handelt es sich bei diesen Beispielen um klassische Verschwörungstheorien, von denen eine manipulative Gefahr ausgeht. Aber nicht alles, was heute als Verschwörungstheorie gelabelt wird, ist kruder Unfug. Vielmehr hat sich der Begriff „Verschwörungstheorie“ selbst in einen politischen Kampfbegriff verwandelt, mit dem Kritik an der Regierung zum Verstummen gebracht werden soll. Zu beobachten war dies während der Corona-Pandemie, als Maßnahmen-Kritiker pauschal wie Aluhut-Träger behandelt wurden. Oder in der Debatte um den Klimawandel, in der kritische Stimmen zu „Leugnern“ degradiert wurden.

Wer in den Pandemie-Jahren gegen die Schulschließungen demonstrierte, galt schnell als „Schwurbler“.

Mittlerweile wirft die Regierung und vor allem die grüne Partei so manipulativ mit dem Begriff „Desinformation“ um sich, dass man diesen Begriff selbst als eine Verschwörungstheorie bezeichnen kann. Davon aber ist in Ferdinand von Schirachs Text kein Wort zu lesen. Brav wendet er sich gegen Donald Trump und damit indirekt auch gegen Trump-Unterstützer Elon Musk, den Besitzer von X, der radikal für die freie Rede einsteht und darum zum Feindbild der Linken geworden ist. Dass auch Trumps Gegner im Wahlkampf massiv auf die Verdrehung der Tatsachen setzen, blendet von Schirach aus.

Folgerichtig frohlockte der Grünen-Politiker Janosch Dahmen sogleich auf X: „Auch Ferdinand von Schirach warnt in diesem eindringlichen Kommentar davor, wie sehr die Plattformen X, TikTok und Telegram beeinflussen, was inzwischen als Wahrheit & Wirklichkeit ‚empfunden‘ wird und wie stark dies die große Verbreitung von Antisemitismus & Islamismus fördert.“

Dahmens Reaktion verwundert nicht – hatte er doch, nachdem Protokolle des Corona-Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts unter dem Schlagwort RKI-Files öffentlich wurden, sogleich Desinformation gewittert. Er schrieb damals auf X: „Der Versuch, in die RKI-Files einen Skandal hineininterpretieren zu wollen, ist Ausdruck von Unkenntnis zur Krisenstabsarbeit & von weiterer Desinformation, um uns zu spalten. Wir sollten uns vor solcher Einflussnahme ausländischer Nachrichtendienste schützen.“ Ob Ferdinand von Schirach ahnt, wie sehr er mit seinem Kommentar der Regierung schmeichelt? Ob er die Debatte um die Trusted Flagger, die, gleich einer Paralleljustiz, sogenannte Hassrede und Desinformation im Netz suchen und melden sollen, überhaupt mitbekommen hat?

Ferdinand von Schirach ist eigentlich der Meister der Komplexität. In seinen Romanen untersucht der Jurist die Facetten der Schuld im moralischen, rechtlichen, politischen Sinne. Umso erstaunlicher ist die selbstgewählte Unterkomplexität, die aus jeder Zeile seines Kommentars trieft. Eine Demokratie lebt davon, dass um Wahrheit und Wirklichkeit, um die es von Schirach laut dem Titel seines Kommentars geht, immer wieder gerungen wird. Dass auch die Wahrheiten des gesellschaftlichen Establishments immer wieder angezweifelt werden.

Kein Instrument ist dazu besser geeignet als die sozialen Medien. Nie konnten sich so viele Menschen so niederschwellig am Diskurs beteiligen. Nur wer Angst vor mündigen Bürgern hat, kann dies missbilligen. Ausgerechnet jenes Ereignis, das von Schirach für seine These als Beispiel heranzieht, das Massaker der Hamas, belegt die demokratische Bedeutung der sozialen Medien: Denn Elon Musks Plattform X war der Ort, an dem sich am schnellsten Informationen über die Gräueltaten der Hamas verbreiteten. Das weiß sogar von Schirach, er erwähnt die "„über 60.000 Videos“ und „zahllosen Fotos der Morde, Folterungen und Vergewaltigungen“.

Videos und Fotos sind Zeugnisse der Realität, ebenso wie niedergeschriebene Beobachtungen. Sie bilden damit einen elementaren Bestandteil der medialen Öffentlichkeit. Dass sich ein Schriftsteller gegen ein Medium als solches richtet, ist im Grunde ein ungeheuerlicher Vorgang: Er verrät damit die freie Rede, von der all seine schöpferische Kraft ausgeht.

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