Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien: Wie geht es weiter im Nahen Osten?

vor 5 Monaten

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Der Fall von Bashar al-Assad hat Syrien in eine Phase tiefgreifender Unsicherheit gestürzt, die von politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen geprägt ist. Jahrzehntelange autoritäre Herrschaft und ein verheerender Bürgerkrieg haben das Land zerstört und ein Machtvakuum erzeugt, in das im Moment verschiedene Gruppen vorstoßen, die um die Vorherrschaft kämpfen. Russland und der Iran, einst die Hauptstützen des Assad-Regimes, sind nicht mehr in der Lage, Syrien zu stabilisieren, während Israel, der einstige Erzfeind der Assad-Dynastie, als der große strategische Gewinner aus der neuen Lage hervorgeht.

Für die mehr als eine Million Syrer, die in Deutschland leben, wird die Frage nach Rückkehrmöglichkeiten lauter, da Syrien in vielen Regionen nicht mehr als unsicher gilt.

Die folgende Analyse beleuchtet die aktuelle Lage, die historischen Wurzeln des Konfliktes und mögliche Perspektiven für ein Land, das nach jahrelangem Chaos auf der Suche nach einer neuen Ordnung und einer stabilen Regierung ist.

Nach dem Sturz von Bashar al-Assad hat Syrien die zentrale Kontrolle verloren. Das Land ist zersplittert, rivalisierende Gruppen kämpfen um die Vorherrschaft. In diesem Kontext sind es vor allem drei Gruppierungen, die eine bedeutende Rolle spielen:

Bashar al-Assad, seit 2000 syrischer Staatspräsident, unterdrückte sein Volk brutal.

Die Freie Syrische Armee (FSA), die einst als Hoffnungsträger der Opposition galt, ist inzwischen stark geschwächt und operiert nur noch im Norden, unterstützt von der Türkei. Parallel dazu kontrollieren die Kurdischen Kräfte (SDF und YPG) weite Teile im Nordosten Syriens. Die YPG (Volksverteidigungseinheiten), der militärische Arm der Partei der Demokratischen Union (PYD), strebt die Etablierung einer autonomen kurdischen Region an und wird von den USA unterstützt, steht jedoch unter starkem Druck der Türkei, die die YPG als terroristische Organisation betrachtet. Schließlich ist da Hayat Tahrir al-Sham (HTS), eine islamistische Miliz, die die Provinz Idlib beherrscht und von Golfstaaten inoffiziell unterstützt wird. Diese Kräfte repräsentieren die Komplexität des syrischen Konflikts und die fortdauernde Fragmentierung des Landes.

Um die heutige Machtstruktur in Syrien zu verstehen, lohnt ein genauerer Blick auf Hayat Tahrir al-Sham und ihren Anführer, Abu Mohammed al-Jawlani. Die Geschichte dieser Gruppierung und ihres Führers illustriert, wie Syrien sich von einer zentralistischen Diktatur hin zu einem Mosaik aus rivalisierenden Kräften entwickelt hat.

Hayat Tahrir al-Sham (HTS), übersetzt „Organisation zur Befreiung der Levante“, ist heute eine der dominierenden Kräfte in Syrien. Gegründet 2017, entstand die Gruppierung durch die Fusion mehrerer islamistischer Milizen, darunter Jabhat Fateh al-Sham (ehemals Jabhat al-Nusra), die wiederum ein syrischer Ableger von Al-Qaida war. Diese Entwicklung zeigt die schrittweise Abkehr von globalem Dschihadismus hin zu einer stärker nationalistisch geprägten Agenda.

Abu Mohammed al-Jawlani gründete die Al-Nusra Front, den syrischen Arm von Al-Qaida.

Ihr Anführer, Abu Mohammed al-Jawlani, mit bürgerlichem Namen Ahmad Hussein al-Shara, wurde 1981 in der syrischen Stadt Daraa geboren. Jawlani schloss sich zunächst Al-Qaida im Irak unter Abu Musab al-Zarqawi an und übernahm später die Führung von Jabhat al-Nusra. Zur Erinnerung: Abu Musab al-Zarqawi (1966–2006) war ein jordanischer Islamist und Anführer von Al-Qaida im Irak, verantwortlich für den Angriff auf das UN-Hauptquartier in Bagdad und zahlreiche Autobombenanschläge gegen US-Truppen und Zivilisten im Irak mit tausenden Toten, durch die er die Grundlage für den späteren Aufstieg des Islamischen Staates (IS) legte.

Jabhat al-Nusra spielte eine Schlüsselrolle im syrischen Bürgerkrieg, bevor sie sich 2016 offiziell von Al-Qaida abspaltete, um als Jabhat Fateh al-Sham mehr Unterstützung innerhalb Syriens und international zu gewinnen. Die Reorganisation zu HTS 2017 war ein weiterer Versuch, die Gruppe als legitime Oppositionsbewegung zu präsentieren.

HTS verfolgt eine Doppelstrategie: Einerseits bemüht sie sich, ihre Kontrolle über die syrische Provinz Idlib (Knotenpunkt für humanitäre Hilfslieferungen sowie Waffentransporte) durch militärische Stärke zu sichern, andererseits sucht sie internationale Anerkennung, indem sie sich von radikal-islamistischen Elementen distanziert. Das mag zukünftig gelingen, international jedoch wird HTS weiterhin als terroristische Organisation eingestuft.

Um die heutige Situation zu begreifen, muss man die Vorgeschichte Syriens verstehen. Die Assad-Dynastie, die das Land seit 1970 beherrschte, hinterließ ein Erbe von autoritärer Herrschaft und systematischer Unterdrückung. Hafez al-Assad konsolidierte seine Macht durch einen Polizeistaat, während sein Sohn Bashar, der 2000 die Nachfolge antrat, zunächst Hoffnung auf demokratische Reformen der Pressefreiheit weckte. Doch diese Hoffnungen zerbrachen schnell, als Bashar sich nach 2011 ganz auf die repressiven Strukturen seines Vaters stützte.

Der sogenannte „Damaszener Frühling“, eine kurze Phase von liberalem Aufbruch, wurde durch Verhaftungen und eine brutale Unterdrückung durch Assads Geheimpolizei im Keim erstickt. Diese historische Last trug maßgeblich dazu bei, dass der Bürgerkrieg 2011 ausbrach, nachdem friedliche Proteste gegen das Assad-Regime brutal niedergeschlagen wurden.

Im Laufe des Bürgerkriegs spielten externe Einflüsse eine entscheidende Rolle. Russland und der Iran unterstützten das Assad-Regime mit militärischer und finanzieller Hilfe, um ihre eigenen geopolitischen Interessen zu sichern. Doch in den letzten Jahren hat sich das Kräfteverhältnis im Nahen Osten entscheidend verschoben.

Russlands Präsident Wladimir Putin verfügte nicht mehr über ausreichende Mittel, das Assad-Regime in Syrien zu stabilisieren.

Russland ist durch den Krieg in der Ukraine militärisch und wirtschaftlich geschwächt und hat kaum noch Möglichkeiten, in Syrien Einfluss zu nehmen. Der Iran wiederum sieht sich durch Sanktionen, interne Unruhen und massive israelische Angriffe auf seine Verbündeten Hisbollah und Hamas in die Defensive gedrängt und verfügt ebenfalls über keine Mittel mehr, in Syrien einzugreifen. Beide Länder konnten dem Assad-Regime deshalb nicht mehr wie in der Vergangenheit zu Hilfe kommen. Das ist der Hauptgrund, warum die verhasste Diktatur Assads binnen zwei Wochen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.

Das Schicksal Syriens nach dem Sturz Assads erinnert an die Entwicklungen in Libyen nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis im Oktober 2011. Auch dort führte der Zerfall der zentralen Macht zu einem langanhaltenden Konflikt zwischen rivalisierenden Gruppen. In Syrien ist ein ähnliches Szenario denkbar, bei dem keine klare politische Ordnung entsteht und das Land jahrelang zwischen Chaos und einer möglichen neuen Diktatur schwanken wird.

Inmitten dieses Chaos hat sich Israel als der große Gewinner erwiesen. Der Zusammenbruch Syriens und die Schwächung des Irans nach den Angriffen Israels auf Hamas und Hisbollah haben die Sicherheitslage für Israel entscheidend verbessert. Die Kontrolle über die Golanhöhen ist durch die Instabilität in Syrien de facto international akzeptiert, während die Normalisierung der Beziehungen zu arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain durch die Abraham-Abkommen Israels geopolitische Stellung gestärkt hat.

Benjamin Netanjahu in Gaza.

Israels Militär bleibt das stärkste der Region, unterstützt durch modernste Technologie und umfassende US-Hilfe. Gleichzeitig profitiert Israel von einer robusten Wirtschaft, die seine militärischen und diplomatischen Bemühungen weiter untermauert.

Deutschland beherbergt derzeit 972.460 Syrer mit syrischer Staatsbürgerschaft und insgesamt 1.281.000 Menschen mit syrischem Migrationshintergrund. Von diesen sind rund die Hälfte auf Bürgergeld angewiesen. Die Stabilisierung Syriens kann und sollte also eine Rückkehr vieler Flüchtlinge ermöglichen – auch deshalb, weil damit die soziale und wirtschaftliche Belastung in Deutschland reduziert würde.

Angehöriger von Inhaftierten im Saidnaya-Gefängnis versuchen, ihre Angehörigen zu finden.

Da sich die Sicherheitslage in weiten Teilen Syriens stabilisiert hat, sollten nun unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden, um die Rückkehr syrischer Flüchtlinge zu fördern. Die Befreiung des berüchtigten Saidnaya-Gefängnisses, wo jahrzehntelang politische Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten wurden, und die Rückkehr von Zehntausenden Häftlingen zu ihren Familien zeigen eine deutliche Verbesserung der humanitären Situation im Land. Dies ist ein wichtiges Signal für die Normalisierung und könnte die Basis für eine geordnete Rückführung syrischer Flüchtlinge bilden. Es besteht damit kein Grund mehr, Syrien länger als „unsicheres Land“ einzustufen.

Syrien steht vor einer ungewissen Zukunft. Aber das ist für Länder nach dem Ende einer langen Diktatur absolut typisch. Wie der deutsche Soziologe Max Weber einmal sagte: „Jede Herrschaft, die bloß auf Gewalt beruht, ist instabil und auf die Dauer keine Herrschaft.“ (Max Weber, Politik als Beruf, 1919). Diese im Moment herrschende Unsicherheit bedeutet jedoch keineswegs, dass Syrien keine Zukunft hat und die Lage im Land sich nun auf Jahre oder gar Jahrzehnte hinaus nicht mehr stabilisieren würde.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat betont, dass nach dem Sturz von Bashar al-Assad keine voreiligen Entscheidungen über die Rückkehr syrischer Flüchtlinge getroffen werden sollten, da die Lage in Syrien weiterhin unübersichtlich sei und eine genaue Analyse erfordere. Typisch Faeser, wird man sagen müssen. Diese Einschätzung greift zu kurz und zeigt erneut, wie vorschnell und voreingenommen Faeser in zentralen politischen Fragen urteilt.

Nancy Faeser warnt vor voreiligen Entscheidungen über die Rückkehr von Syrern in ihre Heimat.

Tatsächlich spricht vieles dafür, dass syrische Migranten, die in Deutschland demokratische Werte und Rechtsstaatlichkeit kennengelernt haben, nun eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau ihres Landes übernehmen können. Die in Deutschland erworbenen beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen können essenziell für den Wiederaufbau von Demokratie, Infrastruktur, Bildung und Wirtschaft in Syrien sein. Darüber hinaus können Rückkehrer als Vermittler zwischen ethnischen und religiösen Gruppen agieren und so die nationale Versöhnung und Stabilität fördern.

Während Faeser also reflexhaft vor angeblicher Unklarheit warnt, ignoriert sie vollkommen, dass Syrien nach dem Machtwechsel auf die Rückkehr seiner Bürger angewiesen ist, um eine demokratische Zukunft zu schaffen – ein Ziel, zu dem syrische Migranten mit ihren in Deutschland gewonnenen Erfahrungen entscheidend beitragen können.

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