
Der Krieg in Gaza ist nicht neu – und doch ist er in jeder Eskalation wieder unerträglich. Wieder Tote, wieder zerstörte Städte, wieder Weltöffentlichkeit. Doch was sich im Sommer 2025 abspielt, ist mehr als ein regionaler Konflikt: Es ist ein Spiegel, in dem sich die Abgründe unseres digitalen Zeitalters offenbaren. Ein Krieg, der mit Raketen geführt wird – aber mit Bildern entschieden werden soll.
Beide Seiten, Israel und Hamas, bedienen sich der Macht der Bilder in einer Weise, die erschüttert. Blutende Kinder in Krankenhausfluren, schreiende Mütter, Männer, die aus Trümmern Leichen ziehen – das Leid ist real, und es wird gnadenlos in Szene gesetzt. Emotionalisierung ersetzt Kontext, Schockwirkung ersetzt Erklärung. Auf Social Media wird die Timeline zur Frontlinie der moralischen Mobilmachung.
Wer sich dieser Logik entzieht und differenziert, wird sanktioniert. Es reicht, Zweifel zu äußern, und schon fällt das Etikett: „Verharmloser“, „Relativierer“, „Leugner“. Fragen stellen gilt als verdächtig. Differenzieren als gefährlich.
Wer nun meint, damit sei der Fall erledigt, springt zu kurz. Die israelische Regierung, allen voran Premierminister Netanjahu, agiert seit Jahren mit einem Maß an ideologischer Verhärtung, das selbst innerhalb Israels massiv kritisiert wird. Die Koalition mit ultranationalistischen und religiösen Hardlinern hat eine Politik hervorgebracht, die mit dem Selbstbild einer liberalen Demokratie immer weniger gemein hat. Was derzeit in Gaza geschieht, lässt sich nicht mehr nur mit „Verteidigung“ erklären. Es ist ein Vorgehen, das immer öfter wie Kollektivbestrafung aussieht – und auch so empfunden wird.
Dass Menschen unter dem Raketenhagel der Hamas leiden, steht außer Frage. Dennoch darf es nicht zur Nebensache werden, dass Millionen palästinensische Zivilisten im Gazastreifen als Faustpfand zwischen Terror und Militär zerrieben werden. Ein echter moralischer Kompass schlägt nicht nur in eine Richtung aus. Wer Gewalt gegen Zivilisten verurteilt, kann nicht bei Palästina plötzlich verstummen.
Das Leid durch Kriege in anderen Ländern offenbart zudem das Problem unserer eigenen Debattenkultur. Der westliche Blick auf den Nahen Osten ist geprägt von Infantilität, moralischer Hybris und erschreckender Unkenntnis. Auf Plattformen wie X herrscht keine echte Diskussion, sondern Dauertribunalisierung. Der Algorithmus spült das nach oben, was am lautesten, empörendsten, emotionalsten ist. Belohnt wird nicht Erkenntnis, sondern Empörung.
Medien, vor allem soziale Medien, sind kein Ort mehr für Dialog, sondern ein Pranger. Gerade in dieser Umgebung entstehen Narrative, die mehr mit ideologischer Selbstvergewisserung zu tun haben als mit Realität. Wer Palästinenser kritisiert, gilt als „antimuslimisch“. Wer Israels Regierung hinterfragt, ist „antisemitisch“. Die moralische Erpressung ist allgegenwärtig – und sie wirkt.
Weder Hamas noch die israelische Regierung sprechen für die Menschen, in deren Namen sie handeln. Die einen instrumentalisieren den Tod – die anderen setzen auf militärische Übermacht. Beide Seiten betreiben Propaganda und tun alles dafür, dass echte Verständigung unmöglich bleibt.
Langfristig sollten wir uns darauf besinnen, wieder miteinander zu sprechen. Nicht auf X, nicht zwischen Memes und Moralfilter, sondern mit politischem Ernst, geschichtlicher Tiefe und einer Sprache, die mehr kennt als Schwarz und Weiß. Das bedeutet auch: unbequeme Wahrheiten aushalten. Dass Israel ein Existenzrecht hat – aber keine moralische Blankovollmacht. Dass Palästinenser Rechte haben – aber auch Verantwortung für die Kräfte, die in ihrem Namen sprechen.
Wer das nicht leisten will oder kann, sollte zumindest schweigen – statt sich an der nächsten Empörungswelle zu beteiligen. Denn alles andere ist nur noch Inszenierung. Und davon haben wir genug gesehen.