Neue Großoffensive im Gazastreifen: Israels Regierung am Scheideweg

vor 18 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Vor zwei Monaten nahm Israel den Krieg im Gazastreifen wieder auf. Anstelle von Verhandlungen sollte offenbar mehr militärischer Druck ausgeübt werden, um die Hamas in die Knie zu zwingen. Laut israelischen Angaben handelte es sich bisher um gezielte Angriffe auf Hamas-Stellungen im Gazastreifen. Vor Kurzem hat das israelische Militär jedoch eine neue Großoffensive im Gazastreifen gestartet und dabei neue Kriegsziele gesetzt. Auf einer jüngsten Pressekonferenz skizzierte Israels Ministerpräsident Netanjahu die neue Militärpläne: „Alle Geiseln kommen nach Hause, die Hamas legt ihre Waffen nieder, tritt von der Macht zurück, ihre Führung wird aus dem Gazastreifen verbannt.“ Der Küstenstreifen werde vollständig demilitarisiert, erläuterte er weiter, „und wir setzen den Trump-Plan um“. Damit meinte er die Umsiedlung der zwei Millionen Palästinenser in die Nachbarländer. Seit Wochen erwähnt Netanjahu immer wieder den „Trump-Plan“. Dabei spricht der US-amerikanische Präsident selbst kaum noch über die Idee, die er Anfang Februar auf einer Pressekonferenz mit Netanjahu vorgestellt hatte: die Bewohner des Gazastreifens in andere Länder umzusiedeln und das verwüstete Gebiet in eine Nahost-Riviera zu verwandeln. Seit seinem Golfstaaten-Besuch hat Trump die Idee gar nicht mehr erwähnt.

Israels Militär plant nun innerhalb weniger Wochen die Einnahme von drei Vierteln des abgeriegelten Gazastreifens. Den Plänen zufolge werde es nur zwei Monate dauern, bis 75 Prozent des Küstengebiets erobert sind. Bisher kontrolliere die Armee rund 40 Prozent des Gebiets. Die palästinensische Zivilbevölkerung solle auf ein Viertel des abgeriegelten Küstengebiets zusammengedrängt werden, „um Gaza von der Hamas zu befreien“. Die Hoffnungen, dass Trump bald eine Waffenruhe im Nahen Osten erzwingen könnte, wurden damit gedämpft. Nun wird eine neue Runde der Eskalation in der Region erwartet.

Für Israels Ministerpräsident Netanjahu steht seine von Krisen geprägte Karriere vor einem entscheidenden Moment: Der Weg, den er wählt, könnte die Beziehungen Israels zu den Palästinensern, zu den USA und zu den Golfstaaten langfristig beeinflussen. Ein möglicher Weg wäre die Fortsetzung des erneuten Einmarschs in Gaza, um die Hamas zu vernichten. Dies würde weitere Opfer fordern und Netanjahus Beziehungen zu USA und den Golfstaaten weiter schädigen. Der andere Weg wäre ein Waffenstillstand. Dieser könnte zwar Netanjahus Regierung stürzen, aber gleichzeitig Israels Einfluss im Weißen Haus wiederherstellen – und das zu einem Zeitpunkt, an dem Trump die US-Politik gegenüber dem Golf, Syrien und dem Iran neu ausrichtet.

Das Risiko einer erneuten Invasion ist mittlerweile gefährlich hoch. Am 19. Mai kündigte Netanjahu an, die israelischen Streitkräfte würden „die Kontrolle über ganz Gaza übernehmen“. Israel erhofft sich durch eine letzte Truppenaufstockung die Vernichtung der Reste der Hamas. Am 13. Mai wurde bei einem Angriff möglicherweise Muhammad Sinwar, einer der letzten hochrangigen Kommandeure der Hamas, getötet. Die humanitären Folgen der Offensive dürften allerdings enorm sein. Seit dem Zusammenbruch des Waffenstillstands am 18. März wurden schätzungsweise 5.000 Bewohner Gazas getötet, womit sich die Gesamtzahl auf über 50.000 erhöht, einschließlich der Kämpfer. Hunger ist weit verbreitet.

Die Trump-Regierung scheint Israel zwar freie Hand zu geben, doch Netanjahu selbst genießt offenbar nicht mehr ihre volle Unterstützung. So soll Steve Witkoff, Trumps Gesandter für den Nahen Osten, Netanjahu in einem privaten Gespräch dazu gedrängt haben, zu einem Abkommen mit der Hamas zurückzukehren. Der amerikanische Vizepräsident JD Vance wollte letzte Woche nach Israel reisen, sagte den Besuch jedoch ab, um nicht den Anschein zu erwecken, die jüngste militärische Expansion Israels zu unterstützen. Trump und sein Umfeld vermeiden es, die israelische Regierung offen zu kritisieren. Der Präsident hat wiederholt gesagt, er sähe gern ein Ende des Krieges, die Freilassung der Geiseln und die Lieferung von Lebensmitteln nach Gaza. Öffentlich hat er jedoch die Verantwortung der Hamas zugeschoben. Sollte Israel jedoch erneut in Gaza einmarschieren, könnte sich die Distanz zwischen den USA und Israel weiter vergrößern.

Das Problem dabei ist, dass zwischen Netanjahu und Trump Misstrauen herrscht. Der US-Staatschef verfolgt derzeit eine neue Strategie in der Region, die nicht mit dem aktuellen Kurs der israelischen Regierung übereinstimmt. Netanjahu war völlig überrumpelt von der Entscheidung der USA, mit dem Iran über ein Atomabkommen zu verhandeln. Auch die Ankündigung Trumps, die USA hätten sich bereit erklärt, ihre Bombenangriffe auf die Huthi zu beenden, obwohl diese weiterhin Raketenangriffe auf Israel durchführen, traf den Ministerpräsidenten unvorbereitet. Israel stand zudem nicht auf dem jüngsten Reiseplan des Präsidenten während seiner Nahost-Tour. Als nächstes arabisches Land sollte Saudi-Arabien das Abraham-Abkommen unterzeichnen und seine Beziehungen zu Israel normalisieren. Trump hat jedoch in Riad akzeptiert, dass dies nicht geschehen wird, solange der Krieg im Gazastreifen andauert. Trump traf in Saudi-Arabien den neuen syrischen Machthaber Ahmed al-Sharaa und verkündete die Aufhebung der US-Sanktionen gegen Syrien, was von Israel kritisiert wurde.

Die Diplomatie ist möglicherweise noch nicht tot. Laut dem Plan, den Trumps Sondergesandter Steve Witkoff vor einigen Wochen vorgelegt hat, soll die Hamas die Hälfte der noch in ihrer Gewalt befindlichen Geiseln freilassen. Im Gegenzug soll es eine mehrwöchige Waffenruhe geben. In dieser Zeit soll über alles Weitere verhandelt werden. Die Hamas hat bereits einen amerikanisch-israelischen Soldaten freigelassen. Israel hat die Verteilung von Hilfsgütern durch Hilfsorganisationen teilweise zugelassen. Der mögliche Tod Sinwars könnte ebenfalls zu einem Waffenstillstand beitragen. Da mit Muhammad Sinwar ein weiterer Hardliner ausgeschaltet wurde, könnten die pragmatischeren politischen Führer der Hamas, die außerhalb des Gazastreifens stationiert sind, mehr Spielraum haben.

Die Haupthindernisse für einen Frieden bleiben jedoch bestehen. Israel wird nur einen vorübergehenden Waffenstillstand dulden, in dessen Verlauf weitere Geiseln freigelassen und mehr Hilfsgüter ins Land gelassen würden. Die Hamas hat ein Abkommen ohne eine dauerhafte Beendigung des Krieges jedoch ausgeschlossen und sträubt sich gegen Israels Forderung, die überlebenden Führer des Gazastreifens zu entwaffnen und ins Exil zu schicken. Ein weiterer Faktor, der die Waffenruhe verhindert, kommt hinzu. Netanjahu ist bestrebt, sein politisches Überleben zu sichern. Seine Koalitionspartner von der Siedlerbewegung pochten auf eine Fortführung des Kriegs und drohten mit einem Austritt aus der Regierung, sollte der Premier Zugeständnisse an Palästinenser und andere Staaten machen.

Die israelische Führung ist in den vergangenen Monaten offensichtlich zur Einsicht gelangt, dass sich das Machtgefüge im Nahen Osten am besten mit militärischen Mitteln verschieben lässt. Seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 hat Israel die Hamas erheblich geschwächt. Militärische Aktionen im Libanon haben die Führung der Hisbollah zerschlagen. Der Einfluss des Iran im Nahen Osten ist erschüttert, da Tel Aviv seinem Stellvertreter in Gaza und im Libanon durch Militäroperationen und Spionageaktionen enorme Schäden zugefügt hat. Israel wehrte mit amerikanischer Hilfe zwei große iranische Raketenangriffe ab und schlug gegen die iranische Luftabwehr zurück.

Israel wirkt stark. Doch seine Armee ist müde, und seine politische Landschaft ist gespalten. Gleichzeitig ist mit dem Technologiesektor der dynamischste Teil der israelischen Wirtschaft gefährdet. Bereits vor dem 7. Oktober drohten Tech-Investoren, aufgrund der politischen Spaltungen des Landes, die durch die Debatte um die Justizreform verursacht wurden, abzuwandern. Nach dem Angriff der Hamas und dem andauernden Krieg im Gazastreifen ist das Land isoliert. Investitionen haben derzeit in Israel keine Perspektive mehr. Der Krieg lähmt die Wirtschaft und bedeutet Produktivitätseinbußen für das Land. Die Konflikte mit dem Iran und dessen Verbündeten belasten auch den Haushalt massiv. Dazu trägt auch bei, dass Israel seit dem Überfall der Hamas zeitweise mehr als 300.000 Reservisten einberufen hat. Wer der Armee dient, fehlt aber an seinem Arbeitsplatz. Eine Kriegsführung ohne Ausstiegsstrategie würde zudem keinen Frieden mit Saudi-Arabien bringen, der den Iran weiter isolieren und den Nahen Osten neu gestalten würde.

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