
In außergewöhnlichen Zeiten wird das Normale zur Sensation. Die Bundesregierung vermeldet in ihrem offiziellen Kalender: Am Mittwoch tage „wie immer das Kabinett unter der Leitung des Bundeskanzlers“. Nichts aber ist momentan „wie immer“ – und wird sich ein Kabinett aus drei verfeindeten Parteien vom orientierungslosen Olaf Scholz leiten lassen? Als der Kanzler neulich von einem Bürger gefragt wurde, wo denn die versprochene Führung bleibe, antwortete Scholz schmallippig: „Geführt wird immer.“
Olaf Scholz am Kabinettstisch im Kanzleramt.
Der Sozialdemokrat nimmt die Fliehkräfte in seiner Koalition zur Kenntnis und verlegt sich auf ein bisher schon untaugliches Mittel, die Gesprächstherapie. In dieser Woche sollen die Streithähne Robert Habeck und Christian Lindner, der Grüne und der Liberale, mehrfach ins Gebet genommen werden. Doch mit Formelkompromissen wird sich der gordische Knoten aus Missgunst, Ideologie und Inkompetenz nicht durchhauen lassen.
Ernste Miene bei Vizekanzler Habeck nach einem Gespräch mit Kanzler und Finanzminister.
Finanzminister Lindner ist deutlich besser gelaunt, als er das Kanzleramt verlässt.
Deutschland braucht eine Flucht nach vorne, eine Befreiung aus den Fesseln koalitionären Haders. Dazu könnte die FDP ihren Beitrag leisten mit einem deutlich effektiveren Konzept: Durch neue parlamentarische Mehrheiten ließe sich die politische Dauerblockade überwinden – und die Streitlust der Ampel aushebeln.
Der FDP-Vorsitzende Lindner und sein Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sind sich in der Diagnose einig. Die Bundesrepublik leide unter der Unfähigkeit der Ampel, sich auf vernünftige Kompromisse zu einigen. Das Land stecke fest. Der Sozialstaat sei zu fett, die Migrationspolitik zu lax. Ist es der FDP mit dieser Zustandsbeschreibung Ernst, sollte sie Konsequenzen ziehen und für alternative Mehrheiten sorgen. Nötig sind keine Neuwahlen, nötig ist eine neue Politik.
Die kollabierenden Zustimmungswerte für die drei Ampel-Partner zeigen, dass der Souverän, das deutsche Volk, genug hat von einem Bündnis ohne Schnittmenge. Genug hat er auch von einer linken Politik, die zu keiner echten Wende bei der Zuwanderung bereit ist. Aktuell erreichen die vier nicht-linken Parteien CDU, CSU, AfD und FDP zusammen deutlich über 50 Prozent. Im Bundestag kommen sie auf 363 Sitze.
Zur absoluten Mehrheit fehlen also vier Stimmen. Diese sollten bei entsprechenden Anträgen leicht aus dem Kreis jener sieben fraktionslosen Parlamentarier zu erringen sein, die zuvor der AfD angehörten. Auch unter den zehn Mitgliedern der Gruppe des Bündnisses Sahra Wagenknecht könnten sich Unterstützer finden.
Die FDP sollte selbstbewusst genug sein, eigene Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen. Statt in „Vorschläge“ – so Lindner über sein 18-seitiges Papier zur „Wirtschaftswende“ – könnte die FDP ihre Energie in die Ausarbeitung von Gesetzesinitiativen stecken. Als Grundlage böten sich Anträge an, die CDU und CSU erfolglos eingebracht haben und die auf FDP-Linie liegen. Die Union sollte dann zustimmen können, die AfD auch.
Nehmen wir den Antrag von CDU/CSU „für Wachstum und mehr Wettbewerbsfähigkeit“ vom 25. Juni. Er wurde mit den Stimmen der Regierungsfraktionen abgelehnt. Was aber kann die FDP gegen die von der Union geforderte „Begrenzung der Sozialabgaben bei 40 Prozent des Bruttoarbeitslohns“ haben? Oder gegen die Senkung der Stromsteuer auf das europäische Minimum von 0,05 Cent pro Kilowattstunde und gegen die steuerliche Begünstigung von „Überstunden für Vollzeitbeschäftigte“?
In den Ausschuss verwiesen wurde der Unionsantrag vom 11. September „für eine echte Wende in der Asyl- und Migrationspolitik – Zurückweisungen an den deutschen Grenzen vornehmen“. Auch daran könnte eine FDP, die sich vom linken Gängelband befreit, anknüpfen. Die AfD teilt dieses Anliegen ohnehin.
Friedrich Merz und Christian Lindner wissen, dass sich in ihren Parteiprogrammen viele Übereinstimmungen finden.
Wollen die Liberalen wirklich eine bürgerliche Rechtsstaatspartei sein, können sie gegen diese Forderung aus dem Antrag nichts einzuwenden haben: Es seien „umgehend auch solche Personen an den Binnengrenzen zurückzuweisen, die in einem anderen Mitgliedstaat der EU oder des Schengen-Raums bereits Aufnahme gefunden haben oder die einen Asylantrag auch in einem Staat, aus dem sie einreisen wollen, stellen können.“ Bisher lassen sich die Liberalen von willkommenskulturell verzückten Grünen und einer SPD mit migrationspolitischen Scheuklappen hinter die Wirklichkeit führen.
Soeben machten CDU und CSU sich für eine Rückkehr zur Kernkraft stark. Bei Kohlekraftwerken habe „Technologieoffenheit“ zu gelten. Die Netzentgelte sollen halbiert werden. Diese Forderung fand sich bereits im Antrag vom 25. Juni. Die FDP könnte sämtliche Anliegen ebenfalls vertreten und Anträge in diesem Sinn einbringen. Djir-Sarai nannte den Ausstieg aus der Kernkraft im vergangenen Jahr einen „strategischen Fehler“. So sieht es auch die AfD.
Zwei Einwände liegen auf der Hand: Würden FDP und Union akzeptieren, gemeinsam mit den Stimmen der AfD einem Antrag Gesetzeskraft zu verleihen? Eine punktuelle Zustimmung im Plenum wäre jedoch keine förmliche Zusammenarbeit. Wer von der Qualität seiner parlamentarischen Arbeit überzeugt ist, darf sich nicht von der politischen Konkurrenz diktieren lassen, womit er sich beschäftigen darf und womit nicht. Sinnvolle Gesetze sind sinnvolle Gesetze, egal, wie sie zustande kamen.
Der zweite Einwand gegen eine Neuerfindung der FDP aus dem legislatorischen Geist lautet: Dann würde der Kanzler die liberalen Minister entlassen. Damit wäre in der Tat zu rechnen. An Gesetze aber, die der Bundestag beschlossen hat, ist jede Regierung gebunden. Es wäre eine Lektion in Demut, die dem eitlen Scholz guttäte.
Der Kanzler würde daran erinnert, dass die Regierung dazu da ist, Gesetze auszuführen. Die Regierung muss umsetzen, was der Bundestag beschließt. Sie ist nicht die Herrin des Verfahrens. Volksvertreter vertreten das Volk, nicht Minister, Staatssekretäre oder Beauftragte tun es. Parlamentarische Demokratie funktioniert so.
Insofern würden von einer mutigen FDP und einer Unterstützung durch die Opposition alle profitieren: Die Liberalen hätten dem Elend dieser Ampel ein Ende bereitet, die Union könnte Handlungsstärke beweisen, die AfD müsste Verantwortung übernehmen, Deutschland wäre nicht länger gelähmt. In einer Zeit, da ständig von Transformation und Disruption die Rede ist, sollte keine Partei vor einem solchen notwendigen Mut zurückschrecken. Anders lässt sich die Not nicht wenden.
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