Neue Schulden mit dem alten Bundestag! Verfassungsrechtler warnen: Hier ist das Demokratieprinzip in Gefahr

vor etwa 2 Monaten

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Bildquelle: NiUS

Bertolt Brecht (†1956) kannte Friedrich Merz (CDU) nicht, hat seinen Politikstil aber offenbar vorausgeahnt: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da doch nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Friedrich Merz spricht am 29. Januar im Bundestag

Ein Zitat, das die Idee, mit den Mehrheiten des alten, abgewählten Bundestages ein „Sondervermögen“ von 500 Milliarden Euro für Infrastrukturerneuerung zu beschließen und in die Verfassung zu schreiben, ganz gut trifft. Merz löst das Volk zwar nicht auf, umgeht aber Volkes Votum in der Bundestagswahl und greift auf ein Parlament zurück, das es eigentlich nicht mehr gibt.

Was in diesen Tagen zwischen Union und SPD zur Beschaffung neuer Finanzmilliarden besprochen wird, geht über alles hinaus, was die Bundesrepublik bislang an politischen Volten und Winkelzügen kannte und erlebt hat.

Friedrich Merz im Jakob-Kaiser-Haus, wo die Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU und SPD stattfinden.

Lars Klingbeil auf dem Weg zu den Sondierungsgesprächen mit der Union

Um sich die ganze Dimension der möglichen Milliarden-Schuldenberge klarzumachen, muss man zunächst den Rückgriff auf einen Beschluss mithilfe des alten Bundestages einmal in aller Ruhe auf der Zunge zergehen lassen. Knapp sechzig Millionen Wahlberechtigte werden an die Urnen gerufen, bestimmen ein neues Parlament, aber weil die Mehrheiten für die Zwecke der gewünschten Regierung nicht passen, wird der aktuelle Volkswille bewusst umgangen. Und das nicht etwa, weil die Zeit drängt oder ein Beschluss kurzfristig nötig ist, um Gefahren abzuwenden von Land und Leuten, sondern um die Verfassung zu ändern und neue Milliardenschulden hineinzuschreiben. Zusätzlich zu den 500 Milliarden Euro Sonderschulden soll auch noch die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben abgeschafft werden, die ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten.

Rein rechtlich, sagt der Staatsrechtler Prof. Volker Boehme-Neßler im Gespräch mit NIUS, ist der alte, abgewählte Bundestag 30 Tage lang bis zur Konstituierung des neuen Parlaments „uneingeschränkt arbeitsfähig“. Man könne aber durchaus die Frage stellen, ob es dem Demokratieprinzip entspreche, den bereits geäußerten und bekannten Volkswillen gezielt zu umgehen. „Der Respekt vor der Verfassung nimmt ab. Der Geist der Verfassung spielt oft keine Rolle mehr.“ Hintergrund: Im abgewählten Bundestag verfügen Union und SPD gemeinsam mit den Grünen über die nötige Zweidrittelmehrheit für die Verfassungsänderung, mit der Lockerung der Schuldenbremse und Sonderschulden möglich gemacht werden sollen. Im neuen Parlament reichen die Stimmen dafür nicht mehr, und die Linke will keine Ausgaben für Rüstung mittragen.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es in Artikel 20 des Grundgesetzes. „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ In den letzten drei Jahren waren eine ganze Reihe von Verfassungsklagen erfolgreich, von der Haushaltsklage der Union über die Klage wegen beschnittener Rechte der Opposition oder der Klage von NIUS gegen die Bundesinnenministerin.

Auch der Staatsrechtler Franz Josef Lindner hält Merz’ Milliarden-Coup formalrechtlich für möglich, gibt allerdings zu bedenken, dass es mit Blick auf die Bundestagswahl und die neuen Mehrheiten eine „Zurückhaltungspflicht“ der Exekutive geben könnte, mit dem alten Bundestag so tiefgreifende Beschlüsse herbeizuführen, wie es Änderungen der Verfassung nun einmal darstellten. Es könnte interessant sein, diese Frage dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen, darin sind sich die beiden Top-Juristen einig.

Doch auch das milliardenschweren „Sondervermögen“ selbst finden sie problematisch und könnten sich auch hier eine Klärung in Karlsruhe vorstellen, bis zu welcher Höhe derartige Schuldenberge neben dem regulären Haushalt (der auch neue Kredite umfasst) zulässig seien. Ganz abgesehen davon, dass ein „Sondervermögen“ eben nicht mehr besonders sei, wenn man immer neue daneben aufhäufe, spricht Lindner von einem „Normwiderspruch“, wenn es gleichzeitig eine Schuldenbremse mit Verfassungsrang gebe, die durch Sondervermögen faktisch unwirksam gemacht werde. „Irgendwo muss da eine Grenze sein“, so Lindner. Nur gezogen hat sie bislang halt niemand.

Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler

Boehme-Neßler findet es zudem problematisch, dass diese Sondervermögen, wenn sie einmal beschlossen sind, das Haushaltsrecht als „Königsrecht“ des Parlaments an die Regierung abtreten und die Umgehung von Haushaltsprinzipien (Klarheit und Wahrheit, effizienter Mitteleinsatz, Erfolgskontrolle) ermöglichen. So könnten etwa reguläre Infrastrukturprojekte aus dem Haushalt gestrichen und mithilfe der Sondervermögen bezahlt werden. Spardruck werde von der Regierung genommen und finanzpolitische Sorglosigkeit im Umgang mit den Steuergeldern der Bürger provoziert.

Dass diese grenzwertigen Operationen überhaupt möglich und denkbar seien, sagt Boehme-Neßler, hänge auch mit einem politisch gewollten und geschürten „Notstandsempfinden“ zusammen, das einerseits den Krieg in der Ukraine und den wegbrechenden Schutz der USA für Europa betreffe, zum anderen aber auch mit dem Verweis auf das Erstarken von populistischen Kräften begründet werde. Da greife dann eben die Logik: Not kennt kein Gebot und erlaube den Griff zu grenzwertigen Praktiken. Die Corona-Politik sei dafür gewissermaßen ein Probelauf gewesen. Lindner spricht von einer „politischen Druckdynamik“, die sich aufbaue, wenn politische Akteure sich selbst als die Repräsentanten von Demokratie verstünden und großzügig mit dem Prädikat demokratiefeindlich gegenüber anderen Parteien umgingen.

Oder anders gesagt: Wo es angeblich um die Demokratie geht, ist der Wählerwille egal.

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