
Der Trend ist alarmierend: Die Zahl der Gewalttaten in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern steigt seit Jahren. Zunahme seit 2017: 34 Prozent. Mehr als 1700 Übergriffe gab es laut NRW-Innenministerium allein 2023. Zuletzt randalierten Männer eines Clans in einem Klinikum in Essen. Selbst Zahnärzte sind inzwischen betroffen und fürchten sich vor begleitenden Großfamilien von Migranten, wie NIUS von Betroffenen mehrfach berichtet wurde.
Jetzt wird auch die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW) aktiv und gibt einen neuen „Leitfaden zur Gewaltprävention im Krankenhaus“ heraus. Darin wird auf 52 Seiten so ziemlich an alles gedacht vom deeskalierenden Arbeitsklima über bauliche Veränderungen (Barrieren, Spione in der Tür etc.) bis zu gut einsehbaren Fluchtwegen. Das Wort Migration dagegen fehlt vollkommen in dem Ratgeber.
Das Deckblatt des Leitfadens.
„Gerade die Menschen, die sich in Kliniken an vorderster Front abrackern und dafür sorgen, dass Kranke wieder gesund werden, sollten den ganzen Tag nichts anderes erfahren als Respekt und Dankbarkeit“, sagt auch NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). „Die Kümmerer unserer Gesellschaft sollten sich sicher fühlen und sicher sein. Angriffe auf Einsatzkräfte und Pflegepersonal sind leider keine Seltenheit“, so Reul. Dass in vielen Fällen Menschen mit Migrationshintergrund in die Vorfälle verwickelt sind, sagt auch er nicht.
Und auch der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Gassen, formulierte es im Sommer sehr diplomatisch: „Dass sich Patienten nicht benehmen können und eine schräge Einschätzung der Behandlungsdringlichkeit haben, ist ein nationenübergreifendes Phänomen. Was sich allerdings auch häuft: Da ist einer krank, und sechs Leute kommen als Begleitung mit in die Praxis oder die Notaufnahme und machen Radau. Das ist bemerkenswert und extrem unangenehm.“ „Nationenübergreifend“ ist in der Tat eine interessante Formulierung. Er selbst habe schon einen Patienten gehabt, der eine Tür kaputtgetreten habe.
Doch von dem Migrantenproblem in den Kliniken ist auch im neuen Leitfaden nicht die Rede. Allenfalls eine anonymisierte Fallbeschreibung auf Seite 19 schildert eine Standardsituation, von der viele Ärzte berichten: „Ein Vater sitzt mit seinem verletzten Kind im Wartebereich. Er hat kein Verständnis dafür, dass dringlichere Notfälle zuerst behandelt werden, und bedroht einen Mitarbeitenden am Empfang in aggressivem Ton: ,Wenn mein Kind jetzt nicht sofort behandelt wird, schlag‘ ich hier alles kurz und klein!‘“
Ein anderes Beispiel: „Nach Dienstschluss begegnet der Arzt, der Stunden zuvor einen Besucher der Station verweisen musste, auf dem Weg zu seinem Auto diesem Menschen am Parkplatz. Der noch wütende Besucher geht sofort auf ihn los und streckt ihn mit einem Faustschlag nieder. Als sich Kollegen nähern, ergreift der Täter die Flucht.“
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU)
Auf die Fragen von NIUS (Warum tauchen weder das Wort „Migration“ noch das Thema Migrationshintergrund der Gewalttätigen in dem Leitfaden nicht auf? Ist das Thema Migration mit Blick auf Gewalt in Kliniken aus Ihrer Sicht zu vernachlässigen?), antwortet ein Sprecher der Krankenhausgesellschaft mit einer langen Abhandlung über die „Vielfalt“ in Krankenhäusern:
„Die rund 330 Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen mit rund 293.000 Beschäftigten versorgen 4,2 Millionen Patientinnen und Patienten im Jahr stationär. Diese große Leistung der Daseinsfürsorge ist nur möglich, weil in jedem Krankenhaus Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sehr vielen, örtlich sogar aus mehr als 100 Nationen als Teams zusammenarbeiten. Es ist diese Vielfalt, die wir in den Krankenhäusern benötigen, um in allen Bereichen jeden Tag erkrankten Menschen helfen zu können. Und nur so können die Kliniken dem Fachkräftemangel begegnen. Migration ist also ein selbstverständlicher Teil der täglichen gemeinsamen Arbeit in den Krankenhäusern, die auch die Kommunikation mit Patientinnen und Patienten erleichtert.“
Das war allerdings nicht das Thema der Anfrage, da in der Regel die Belegschaft nicht das Problem der Krankenhäuser ist. Zu den eigentlichen Fragen heißt es lediglich: „Die KGNW verfügt über keine eigenen Statistiken zu gewaltsamen Übergriffen. Der Leitfaden ist als Orientierungshilfe für die Krankenhäuser gedacht, die entsprechende Gewaltschutzkonzepte vor Ort entwickeln und implementieren, Migration ist für diesen Anspruch keine notwendige Kategorie.“
Dabei könnten beispielsweise Patienten mit „südländischem Aussehen“, wie es im Polizeibericht häufig heißt, und Stichverletzungen zur erhöhten Vorsicht mahnen. „Großfamilien“ sind häufiger in Übergriffe verwickelt als blonde Norweger. Ausdrücklich erwähnt wird dagegen „rassistische Gewalt“: „Krankenhäuser leben in allen Bereichen von der Vielfalt ihrer Beschäftigten. Viele von ihnen erleben rassistische Gewalt in den oben beschriebenen Ausprägungen, die jedoch diskriminierend, ausgrenzend auf einen Migrationshintergrund abzielen. Auch Verweigerung von medizinischen oder pflegerischen Maßnahmen gehört dazu. Die nachfolgenden Kapitel widmen sich allgemein der Gewaltprävention und der Nachsorge. Dabei ist klar, dass das Thema Rassismus auch in diesem Kontext eine weitere Aufarbeitung braucht.“
Die Frage, ob unter Rassismus auch abwertende Äußerungen und Handlungen gegenüber erkennbar einheimischen Deutschen gemeint sei, wurde ebenfalls nicht beantwortet.
Darüber hinaus beschäftigt sich der konsequent gegenderte („Mitarbeitende“) Leitfaden ausführlich mit allen erdenklichen Maßnahmen zur Prävention, von baulichen Veränderungen bis zur Trauma-Aufarbeitung nach Angriffen.
O-Ton: „Gewalterlebnisse gehören leider heutzutage zum Arbeitsalltag des Personals im Krankenhaus. Daher müssen die Führungskräfte eines Krankenhauses das Thema unbedingt in die Organisationskultur fest verankern. Es muss Raum und Zeit dafür geschaffen werden. Das beginnt dabei, Präventionsmaßnahmen und die Aufarbeitung von Gewalterlebnissen während der Arbeitszeit zu ermöglichen, und reicht bis hin zur Schaffung von Orten, in die sich ein Opfer zurückziehen kann. Besonders wichtig ist es, den Beschäftigten Respekt und Ernsthaftigkeit entgegenzubringen und als Führungskraft die Rahmenbedingungen für ein vertrauensvolles Miteinander im Team zu schaffen.“
Oder: „Besonders das Deeskalationstraining ist für Beschäftigte unverzichtbar. Jeder Mitarbeitende sollte diese Unterweisung zumindest im Rahmen der Einarbeitung einmal durchlaufen haben, am besten ergänzt durch eine jährliche Auffrischung. Hier ist auch eine mehrtägige Blockveranstaltung denkbar. (...) Den Mitarbeitenden muss Raum zur Gefühlsarbeit geschaffen werden. Sie müssen Erlebnisse aufarbeiten, besprechen und Gefühlen freien Lauf lassen können. Dafür muss immer Zeit und Raum sein. Ein Prinzip der „offenen Tür“.
Ein umfassender Maßnahmen-Katalog wird den Kliniken als Handreichung empfohlen:
Und auch Anzeichen für gewaltbereite Personen werden beschrieben: „Solche Signale sind äußere Unruhe (permanentes Auf- und Abgehen), Schwitzen, Fäusteballen, starrer Blick oder Schlagen auf Gegenstände. Möglicherweise lassen sich hier zuvor erlernte Deeskalationstechniken anwenden.“