Neuer Premier, neuer Protest: Frankreich findet keine Lösung

vor etwa 4 Stunden

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Bildquelle: Tichys Einblick

Frankreich hat einen neuen Premier, den ehemaligen Verteidigungsminister Sébastien Lecornu. Für RN-Chef Jordan Bardella lautet die Devise Macrons ganz offenbar: „Verändere nie eine Mannschaft, die verliert.“ Macron will auch weiterhin auf die schrumpfende Koalition seiner eigenen Parteiengruppe mit den Republikanern bauen. Daneben hat er die Parole ausgegeben, die Sozialisten mit ins Boot zu holen, also eine Koalition über alle politischen Gräben hinweg, auf denen Macron ohnehin seit je Platz genommen hat. Die Sozialisten wollen zwar gerne regieren, aber nicht sicher in dieser Konstellation.

Lecornu, der als enger Vertrauter Macrons gilt, sagte nun, mit ihm werde es „Brüche“ geben, und zwar „in der Sache, nicht nur in der Form oder Methode“. Der neue Premier will „kreativer“ als sein Vorgänger sein, auch „ernsthafter in der Art und Weise, wie mit den Parteien der Opposition gearbeitet wird“. So will er gar die „Kluft zwischen dem politischen und dem wirklichen Leben des Landes“ beenden. Das ist schon ein erhebliches Eingeständnis, auch wenn es nicht unbedingt Selbstkritik bedeutet. Wer weiß schon, wer an der Kluft schuld ist? Vielleicht ja auch die anderen Parteien.

Derweil hat sich eine neue Protestbewegung des Landes bemächtigt, nur einen Tag nach Lecornus Benennung. Vor dem klassischen, quasi folkloristischen Gewerkschaftstag am 18. September hatte sich für den 10. September eine neue Bewegung angesagt: „Bloquons tout“, „Wir blockieren alles“, nennt sich der Protest, den im wesentlichen Julien Marissiaux, ein Unternehmer und Familienvater aus dem Norden des Landes, angestoßen hat.

In dutzenden Städten und kleineren Orten haben sich „Blockierer“ in Szene gesetzt. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da waren sie schon da. Es handelt sich offenbar um ausgeprägte Frühaufsteher, die etwa die Pariser Umgehungsstraße an mehreren Stellen lahmlegten. In Chambéry in Rhône-Alpes haben später Fahrradfahrer die Benutzung eines Kreisels verunmöglicht, unter der Parole „Streik, Blockade, Macron muss weg!“.

In Marseille zogen rund 400 Demonstranten von der Porte d’Aix zum Bahnhof Saint-Charles. Allenthalben sah man die Bilder von errichteten Barrikaden, kleinen Bränden und auch Attacken gegen die Polizei. Die reagierte teils früh mit dem Einsatz von Tränengas. Das geschah auch andernorts, weil man schlicht keine Straßensperren akzeptierte.

Dazu gab es fast 300 Festnahmen nach einem halben Tag, 171 davon in Paris. 106 Mal lösten die Beamten Blockaden auf. Auch 27 Gymnasien wurden blockiert. In Rennes, wo die Lage als besonders angespannt galt, wurde ein Bus geplündert und in Brand gesetzt.

Laut den Sicherheitskräften handelte es sich um „feindliche Gruppen“, die etwa auch in Lyon mit 200 bis 300 Personen versuchten, Autostraßen zu blockieren. Insgesamt ist das eher das Muster der linksradikalen Klima-Apokalyptiker, die sich anscheinend auf den Zug von „Bloquons tout“ gesetzt haben.

In Bordeaux und Paris wurden solche Blockaden verhindert, wie Innenminister Bruno Retailleau verkündete. Retailleau gesteht der Gruppe zu, als Bürgerbewegung begonnen zu haben, dann aber sei sie vom Linksradikalen Mélenchon und den Seinen gekapert worden: „Es wird die Bewegung der radikalen und Ultralinken sein“, sagte der Innenminister am Montag. 40.000 Gendarmen mobilisierte er dafür im ganzen Land.

Und dabei klangen die Forderungen des Initiators des neuen Protestes gar nicht alle nach linker Radikalität. Ins Rollen gebracht hatte die Sache Julien Marissiaux, ein Unternehmer und Familienvater aus der Region aus dem Norden des Landes. Nach lokalen Anfängen verbreitete Marrissiaux sein Programm auch landesweit, vor allem über einen Telegram-Kanal und eine Website, jeweils unter dem Namen „Les Essentiels“.

Marissiaux fordert ein „souveränes Frankreich“. Das Volk müsse die Staatsschulden in die eigenen Hände nehmen, was etwas unbestimmt, aber nicht vollkommen abwegig klingt. Daneben soll das Land „definitiv“ aus der EU austreten und die produzierende Industrie massiv gefördert werden. Ein „Schock der Lohngerechtigkeit“ ergänzt die Forderungen. Deren Gipfelpunkt: Natürlich müsse zuerst Emmanuel Macron zurücktreten, damit so ein Plan überhaupt gelingen kann. Als Vorbilder sieht der 43-jährige Marissaux auch die Gelbwesten (gilets jaunes) an, die seit Jahren gegen eine verfehlte, bürgerfeindliche Politik protestieren.

Das offizielle Frankreich blickt mit erwartbarem Argwohn auf die neue Bewegung, die eigentlich keine einheitliche Gruppe ist. Vielmehr kämen hier mehrere „Gemeinschaften“ zusammen, die sich gegen die Institutionen, gegen die Politik oder gegen die etablierten Medien richten – Gruppen, die auch schon um die Gelbwesten-Proteste aktiv waren. Eine größere Reichweite gewann Marissiaux aber erst seit François Bayrous Mehrjahres-Sparplanvom Juli, in dem der Premier unter anderem die Streichung zweier Feiertage als Opfer der Franzosen an ihren Haushalt gefordert hatte.

Auf den Zug sprang dann allerdings auch die wichtigste Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (CGT) auf, die anfangs eine „rechtsextreme Kerngruppe“ hinter dem Protestaufruf vermutet hatte. Am Ende forderte sie ihre Mitglieder auf, am 10. wie am 18. September „alles durch einen Streik zu blockieren“.

Laut einer Studie sollen etwa 70 Prozent der Unterstützer von „Bloquons tout“ bei den letzten Präsidentschaftswahlen für Jean-Luc Mélenchon gestimmt haben. Das Programm von Marissiaux (wenn man davon sprechen möchte) verbindet aber linke und rechte Themen. Er hat sich von Marine Le Pen ebenso wie von Jean-Luc Mélenchon distanziert, sie als „ultimativen Riegel“ und ihn als „Saugdüse des Zorns“ bezeichnet. Daneben forderte er auch die Auflösung von Parteien, Gewerkschaften und ähnlichem. Online teilte er einen Beitrag des unabhängigen Nationalkonservativen und Frexit-Souveränisten Philippe de Villiers.

Auf seiner Facebook-Seite erklärte er unlängst: „Der 10. September ist weder extrem links noch extrem rechts, sondern extrem notwendig.“ Vor allem bedauert Marissiaux die Zerstörung der Gelbwesten-Bewegung: „Wie immer, wenn ein populärer Impuls zu stark, zu verbindend, zu authentisch wird, reagiert das System.“ Maurissiaux wollte diesen Impuls neu aufnehmen, und das „ohne Vermittler, ohne Filter, ohne Partei“. Wie sich Marissiaux die Blockade der Regierung vorstellte, bleibt ungewiss, aber klar ist, dass man den Charakter einer Bewegung auch durch das Personal rasch ändern kann – und in diesem Fall scheinen die bekannten Links-Anarchisten zugeschlagen zu haben. Vielleicht hätte Marissiaux wissen müssen, dass die titelgebende „Blockade“ dem antikapitalistischen Faulenzer am nächsten liegt, erlaubt sie es ihm doch, auf fruchtbringende Arbeit zu verzichten.

Schon vor dem Protest von diesem Mittwoch warnte der Pariser Polizeipräfekt Laurent Nunez, man werde keine „Verschlechterung“ der Lage bei den Protesten hinnehmen. Das bedeutete: Die regierende Elite möchte keine Störungen, egal ob mit oder ohne Gewalt. Die Enthemmtheit der Linken erlaubte ein hartes Durchgreifen. Und so ist wieder Ruhe im Karton. Auch deshalb musste Macron so geschwind seinen Vertrauten Lecornu zum Premier machen. Jeder Protest soll auf eine in sich geeinte, stabile Exekutive treffen. Ob sie dann wirklich und auf Dauer stabil ist, ist von nachgeordneter Bedeutung.

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