Neuverschuldung für Militär und Infrastruktur: Illegitim, aber legal?

vor etwa 2 Monaten

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Bildquelle: Tichys Einblick

Vor dem Zusammentritt des neu gewählten Bundestages soll nach dem Willen von Unionsparteien und SPD noch schnell der alte Bundestag mit einer aus Unionsfraktionen und Rest-Ampel zusammengesetzten Zwei-Drittel-Mehrheit mittels Verfassungsänderung eine gigantische Neuverschuldung ermöglichen. Aber ist das überhaupt mit dem Grundgesetz und dem Demokratieprinzip vereinbar?

Die „Friedensdividende“ ist seit der Wiedervereinigung aufgezehrt worden. Um wieder verteidigungsbereit zu werden, braucht die Armee viel Geld. Entsprechendes gilt für das Vorhaben, die marode Infrastruktur, die seit Jahrzehnten vernachlässigt wurde, zu sanieren und auszubauen. Über beide Vorhaben besteht im Prinzip Konsens bei einer Mehrheit sowohl des alten als auch des neugewählten Bundestages. Aber bisher hatten die Unionsparteien eine Finanzierung durch neue Schulden abgelehnt. Vor der Wahl hatten sie die Schuldenbremse für unantastbar erklärt. Jetzt will die künftige schwarz-rote Koalition ein „Sondervermögen“ in Höhe von 500 Milliarden für die Infrastruktur schaffen und mit einer Aufweichung der Schuldenbremse Rüstungsausgaben in unbegrenzter Höhe (Merz: „whatever it takes“) ermöglichen. Aber darf der alte Bundestag dies jetzt noch schnell beschließen?

Aus dieser Regelung folgert die vorherrschende Meinung in der staatsrechtlichen Literatur, dass vor dem Zusammentritt des neuen Bundestages der alte Bundestag uneingeschränkt alle Beschlüsse fassen dürfe, die in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments fallen.

Mit dem Wortlaut des Grundgesetzes ist diese Ansicht vereinbar. Aber Vorschriften der Verfassung sind nicht nur nach ihrem Wortlaut, sondern auch nach Sinn und Zweck der Regelung auszulegen. Die periodisch stattfindende Wahl des Parlaments ist das legitimatorische Zentrum des parlamentarisch-demokratischen Systems. Sie vermittelt dem Parlament und mittelbar auch der Regierung und den weiteren Staatsorganen demokratische Legitimation. Die Wahl verwirklicht das demokratische Fundamentalprinzip der Volkssouveränität: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, wie es in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt.

Hat das Volk gewählt und damit über die Zusammensetzung des neuen Bundestages entschieden, dann könnte – auch nach dem Wortlaut des Grundgesetzes – dieser theoretisch bereits am Tag nach der Wahl zusammentreten und seine Arbeit aufnehmen. Es gäbe dann keine Übergangszeit zwischen Wahl und Konstituierung des neu gewählten Parlaments. Das ist aber aus praktischen Gründen nicht möglich: Es wird eine gewisse Zeit benötigt, um die Stimmen zu zählen und nach Feststellung des vorläufigen Endergebnisses die Auszählung zu überprüfen und das endgültige amtliche Endergebnis zu ermitteln. Erst auf dieser gesicherten Basis können die Parlamentsmandate verteilt werden. Und hierfür stellt das Grundgesetz eine Frist von maximal 30 Tagen zur Verfügung. Zweck der Übergangszeit, in welcher die Legislaturperiode des alten Bundestages noch andauert, ist also lediglich, einen parlamentslosen Zustand in der Zeit zu vermeiden, in welcher aus praktischen Gründen der neue Bundestag noch nicht zusammentreten kann.

Dem wird in der staatsrechtlichen Literatur entgegengehalten, dass doch der alte Bundestag durch die vorangegangene Wahl legitimiert sei und dass nach den formalen Regelungen des Grundgesetzes seine Zuständigkeit erst mit der Konstituierung des neuen Bundestages ende, also bis zu diesem Zeitpunkt seine aus der früheren Wahl resultierende Legitimation andauere. Diese Argumentation nimmt aber als gegeben an, was erst bewiesen werden müsste. Näherliegend ist die Annahme, dass mit der Wahl des neuen Bundestages die Legitimation des alten Bundestages im Grundsatz endet und nur zu dem einen Zweck noch als gegeben angesehen werden kann, bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages die staatliche Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Folgt man dieser Auffassung, ist aus Gründen der demokratischen Legitimation nach der Wahl eines neuen Bundestages der alte Bundestag nur noch für solche Entscheidungen zuständig, die unabdingbar getroffen werden müssen und sich nicht noch einige Tage bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages verschieben lassen.

Die Gegenansicht hat den Vorteil, dass sich anhand ihrer rein formalen Kriterien immer präzis bestimmen lässt, ob der alte Bundestag noch zuständig ist oder nicht. Auf ihrer Basis braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen, ob eine Entscheidung unabdingbar und unaufschiebbar ist. Aber dieser Vorteil wird damit bezahlt, dass die von den Wählern abgewählte alte Bundestagsmehrheit noch schnell Entscheidungen gegen den Wählerwillen treffen kann, die für das Gemeinwesen von großer Tragweite sind und die Entscheidungsfreiheit des neu gewählten Parlaments gravierend beeinträchtigen. Das ist jedenfalls mit dem Geist der Demokratie unvereinbar.

Bis heute hat der Bundestag die Wahlentscheidung immer respektiert. Nur ein einziges Mal hat der alte Bundestag in der Übergangszeit bis zum Zusammentritt des neu gewählten Parlaments getagt und eine Entscheidung getroffen. Damals ging es um die parlamentarische Zustimmung zum Bundeswehreinsatz im Kosovo, die unaufschiebbar war und für die es sowohl im alten als auch im neuen Bundestag eine Mehrheit gab. Diese bisherige Praxis zeigt: Der Bundestag hat bisher respektiert, dass die Neuwahl eine neue demokratische Legitimation für den neu zusammengesetzten Bundestag hervorgebracht hat und dass die Legitimation des alten Bundestages nur für Notfälle ausreicht.

Was die Spitzenpolitiker der Unionsparteien jetzt mit den SPD-Sondierern verabredet haben, ist ein strategischer Missbrauch der dem alten Bundestag in der Übergangszeit noch zustehenden Kompetenzen. Für das neue Schuldenregime benötigen sie eine Änderung des Grundgesetzes. Die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit werden sie im neuen Bundestag wahrscheinlich nicht erreichen – Linke und AfD verfügen dort gemeinsam über eine Sperrminorität. Nicht wegen Unaufschiebbarkeit des Vorhabens, sondern allein zu dem Zweck, den neu gewählten Bundestag auszutricksen und ihn mit Hilfe der alten Mehrheit vor vollendete Tatsachen zu stellen, soll jetzt noch schnell der alte Bundestag entscheiden. Dieses Vorgehen zeugt von Verachtung des Wählerwillens, ja, von Verachtung des demokratischen Legitimationsprozesses. Eine abgehobene politische Klasse setzt sich arrogant über diejenigen hinweg, von denen in der Demokratie die Staatsgewalt ausgehen soll. Sie zeigt keinen Respekt vor dem Wahlergebnis und keinen Respekt vor dem Grundgesetz. Sie ändert noch schnell die Verfassung, weil sie die dafür erforderliche Mehrheit gerade bei der Wahl verloren hat.

Eine der großen Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates besteht darin, dass es in ihm grundsätzlich keinen Widerspruch zwischen Legalität und Legitimität gibt: Die Gesetzgebung ist demokratisch legitimiert, Exekutive und Gerichte an die demokratisch legitimierten Gesetze und alle Staatsorgane an die demokratisch-rechtsstaatliche, die Menschenwürde schützende Verfassung gebunden. Handeln die Staatsorgane legal, dann handeln sie in Übereinstimmung mit den das Grundgesetz prägenden Legitimitätsprinzipien.

Hält man – entgegen der von mir vertretenen Auffassung – Beschlüsse des alten Bundestages nach einer Neuwahl auch dann für legal, wenn sie ebensogut bis nach der Konstituierung des neu gewählten Bundestages aufgeschoben werden könnten, dann tut sich im Zeitraum zwischen Neuwahl und Konstituierung des neuen Bundestages eine Kluft zwischen Legitimität und Legalität auf: Der alte Bundestag handelt, wenn er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, nur noch legal, aber nicht mehr legitim. Diese Diskrepanz schädigt zumindest das Vertrauen der Bürger in das Funktionieren der Demokratie.

Der Autor ist emeritierter Staatsrechtsprofessor an der Universität Freiburg.

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