
Nach dem Anschlag von Aschaffenburg im Januar war Friedrich Merz noch klar und entschlossen: Die CDU werde nur eine Koalition eingehen, wenn man sich auf eine Wende in der Migrationspolitik einigen würde. Dass ein Afghane eine Kindergartengruppe in Aschaffenburg mit einem Messer angegriffen und dabei zwei Menschen getötet hatte, darunter einen zweijährigen Jungen, erschütterte Merz offenkundig so sehr, dass er die Migrationswende zur Bedingung für eine Koalition machte.
Konkret verkündete er einen Fünf-Punkte-Plan, den sein Generalsekretär Carsten Linnemann im Interview bei Welt zur Bedingung für eine Koalition machte: „Wenn es keinen Koalitionspartner gibt, der da mitgeht, dann können wir nicht regieren. Es geht hier um die Sache. Sie werden mich in zehn Jahren fragen: Was haben Sie gemacht?“ Linnemann erhöhte die Migrationspolitik also zu einem moralisch-politischen Imperativ der Union.
Sogar eine gemeinsame Abstimmung mit der AfD über einen Antrag war im Bundestag auf einmal möglich, um die Wende in der Migration herbeizuführen. Weil es sich nur um einen Entschließungsantrag handelte, blieb der Entschluss der Abgeordneten jedoch folgenlos, die fünf Punkte ein bloßer Plan. Ein Antrag über das Zustrombegrenzungsgesetz scheiterte zwei Tage später an Stimmen von FDP und einigen Unions-Abgeordneten.
Merz verkündet am 23. Januar seinen Fünf-Punkte-Plan.
Ein zentrales Thema des Merz-Plans: der Schutz der Grenzen. Merz forderte dauerhafte Grenzkontrollen zu allen Nachbarstaaten und ein faktisches Einreiseverbot für alle Migranten ohne gültige Einreisedokumente. Er werde „am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen.“
Nun rudert Merz wieder einmal zurück: Gefragt, ob er an den Zurückweisungen festhalte und wie er diese mit der SPD umsetzen wolle, verwies Merz am Montag bei einer Pressekonferenz auf den Koalitionsvertrag des Landes Brandenburg, der unter SPD-Mann Dietmar Woidke zustande kam. Dort sei von „Grenzkontrollen“ und „Zurückweisungen“ die Rede.
Merz dann: „Ich will auch noch einmal sehr deutlich sagen: Niemand von uns spricht über Grenzschließungen. Obwohl das im Wahlkampf streckenweise behauptet worden ist. Niemand von uns will die Grenzen schließen.“ Man müsse die Landesgrenzen jedoch besser schützen und die Kontrolle darüber zurückgewinnen, wer ins Land komme. Er halte es aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht für möglich, diese „Zurückweisungen auf Zeit“ an den deutschen Grenzen zu ermöglichen, bis das europäische GEAS-System ab 2026 in Kraft tritt.
Tatsächlich aber hatte CDU-Mann Jens Spahn in der Talkshow von Markus Lanz noch im August gesagt, er empfehle seiner Partei, die Grenzen zu schließen. Auf Nachfrage von Lanz, „Sie würden die Grenzen schließen?“, antwortet Spahn: „Ja.“ Grenzschließungen wurden in der CDU also durchaus diskutiert. Jetzt will Merz davon nichts gehört haben.
Im Brandenburger Koalitionsvertrag, auf den sich Merz am Montag bezog, heißt es recht allgemein:
„Gleichzeitig erkennen wir den Handlungsbedarf zur Begrenzung und besseren Steuerung von Migration. Deswegen unterstützt Brandenburg alle geeigneten und rechtssicheren Maßnahmen zur Eindämmung, Verhinderung und Zurückweisung von illegaler und irregulärer Migration.
Wir setzen uns für die erforderliche Verbesserung der entsprechenden bundes- und europarechtlichen Rahmenbedingungen ein. Die bereits vorhandenen Möglichkeiten der Rückführung Ausreisepflichtiger, insbesondere auch nach den Regelungen der Dublin-III-Verordnung (EU), werden wir ausschöpfen. Wir unterstützen die lageangepasste Fortsetzung der Kontrollen an der Grenze zu Polen und die stetige Fortschreibung der Liste sicherer Herkunftsstaaten.“
„Unterstützen“, „erkennen“, „einsetzen“ – keine dieser Formulierungen aus dem Brandenburger Koalitionsvertrag ist nur annähernd so hart und klar gewählt, wie es Merz noch nach dem Anschlag von Aschaffenburg gefordert hatte. Bevor die Verhandlungen überhaupt angefangen haben, schwächt Merz also öffentlich und unter Bezugnahme auf einen schwammig formulierten Koalitionsvertrag auf Länderebene seine Forderungen ab.
Zuvor hatte sich Merz bei seinen einläutenden Worten in der Pressekonferenz nur knapp zur Migration geäußert: „Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch.“ Jeder habe die Debatte um das Zustrombegrenzungsgesetz in Erinnerung. „Ich gehe davon aus, dass die Sozialdemokraten bereit sein werden, darüber zu sprechen und das Problem zu lösen.“
Doch gerade dies erscheint höchst unwahrscheinlich: Der neue starke Mann der Sozialdemokraten, Parteichef Lars Klingbeil, der nun in Personalunion auch Fraktionschef wird, hat bereits deutlich gemacht, bei Merz‘ Vorhaben nicht mitziehen zu wollen. Am 7. Februar hatte Klingbeil gegenüber Bild erklärt: „Es gibt eine rote Linie, über die gehen wir nicht rüber. Und das ist die Frage des Grundgesetzes, der europäischen Verträge und des Völkerrechts. Wir können nichts machen, was am Ende dazu führt, dass Deutschland faktisch die Grenzen zumacht.“
Lars Klingbeil trat am Montag vor die Presse.
Zwei Tage später legte Klingbeil bei Caren Miosga in der ARD nach: „Was die faktische Grenzschließung angeht, die Herr Merz gefordert hat, haben wir sehr klar gemacht, dass wir die nicht mitmachen.“
Merz versucht offenkundig, Druck aus der Migrations-Debatte zu nehmen: Er ahnt, dass er seine fünf Punkte mit einer geschwächten SPD, die von links durch den Erfolg der Linken unter Druck steht, kaum wird umsetzen können – zumal sich der einflussreiche Klingbeil sehr klar gegen eine Grenzschließung positioniert hat und seinen jetzigen Aufstieg wohl kaum durch einen Wortbruch gefährden möchte.
Gleichzeitig sitzt Merz die AfD im Nacken, die bei jedem Kompromiss der Union mit der SPD daran erinnern wird, was mit der AfD alles möglich wäre. Und dann ist da noch die Schwesterpartei aus Bayern. CSU-Chef Markus Söder wies am Montag in einer Pressekonferenz darauf hin, dass die Wähler die Schuld für die Migrationspolitik vor allem bei der Union verorteten – 54 Prozent der Wähler sehen laut infratest dimap die Verantwortung für „die hohe Zahl an Flüchtlingen und Asylbewerbern“ bei der Union. Söder ergänzte mit Blick auf eine Wende in der Migrationspolitik: „Nicht alle sind sich sicher, dass wir es wirklich machen.“ Söder sieht die mangelnde Glaubwürdigkeit der Union bei der Migration als zentralen Grund für die Stärke der AfD – und erklärte dennoch, seiner Ansicht nach sei mit der SPD ein „grundlegender Richtungswechsel“ möglich.
Derweil positioniert sich innerhalb der Union auch der linke Parteiflügel, der im Geiste Angela Merkels einer allzu restriktiven Migrationspolitik kritisch gegenübersteht. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst bekannte am Montag vor Sitzungen der Spitzengremien seiner Partei zwar, die Menschen hätten „einen Politikwechsel gewählt“: „Ich habe nicht den Eindruck, dass die SPD sich hier verweigern kann oder verweigern will.“ Wüst betonte jedoch auch: „Jetzt ist die politische Mitte gefordert zusammenzukommen, auch Brücken zu bauen und Antworten zu geben auf die Sorgen der Menschen, denn nur so werden wir am Ende die extremen Ränder wieder klein kriegen.“
Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, gab am Montag vor der CDU-Präsidiumssitzung ein Statement.
Wüsts Sätze deuten darauf hin, dass Merz mit der SPD und dem eigenen linken Flügel gleich zwei Akteure erfolgreich einhegen muss, wenn er eine wirkliche Wende einleiten will. Hinzu kommt die links-grün geprägte mediale Öffentlichkeit, die einer restriktiven Grenzpolitik mit Skepsis und Warnungen begleiten würde.
Erneut scheint Merz nun unter diesem Druck einzuknicken. Kurz vor der Bundestagswahl hatte er bereits im Kanzler-Duell von Bild und Welt den 5-Punkte-Plan quasi selbst abgeräumt. Auf Nachfrage machte er nicht mehr die 5 Punkte zur Bedingung, sondern nur noch eine Migrationswende – so schwammig ausgedrückt, dass sich darunter vieles verbergen kann.
Während Merz versucht, das Thema Migration kleinzuhalten, nimmt die Bevölkerung die ungelösten Probleme der Migration als extrem dringlich wahr. Die größte Rolle für die Wahlentscheidung spielte laut infratest dimap für 18 Prozent der Wähler die innere Sicherheit, die eng mit der Migration verknüpft ist, wie die Anschläge der vergangenen Monate zeigten. Das Thema liegt gleichauf mit der sozialen Sicherheit, auf Platz drei folgt die Zuwanderung mit 15 Prozent. Die Migrationspolitik war also für 33 Prozent der Wähler direkt oder indirekt das wichtigste Thema, es handelt sich um die spielentscheidende Frage bei dieser Wahl.
Quelle: tagesschau.de
Noch sind die Hoffnungen der Unions-Wähler hoch: 86 Prozent von ihnen trauen der Partei zu, die Zuwanderung nach Deutschland wirksam zu verringern. Insbesondere bei der Mobilisierung neuer Wähler war das Thema entscheidend: Die neu hinzugekommenen Wähler der Union stimmen zu 92 Prozent der Aussage zu: „Finde es gut, wie klar sich Friedrich Merz gegen irreguläre Zuwanderung ausspricht.“
Ob diese Hoffnungen begründet sind, scheint nach den Aussagen von Merz an diesem Montag umso zweifelhafter.
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