
In welchen Wahlkreisen wird es am Sonntag spannend, welche Parteien verlieren durch die Wahlrechtsreform besonders viele Direktmandate und wo treffen bekannte Polit-Größen aufeinander? Die NIUS-Wahlkreisanalyse verrät es.
Es sind vor allem die großen konservativen Parteien, bei denen nun Direktmandate wegfallen dürften: Am 23. Februar stimmen 59,2 Millionen Deutsche darüber ab, wie der 21. Deutschen Bundestages zusammengesetzt sein wird. Durch die Wahlrechtsreform werden statt der aktuellen 733 nur noch 630 Abgeordnete im Parlament sitzen.
Aktuellen Prognosen zufolge dürfen etwa 21 Kandidaten nicht in den Bundestag einziehen – obwohl sie voraussichtlich ein Direktmandat gewinnen und demnach persönlich vom Volk gewählt werden.
Die Prognosen, die Election.de für seine Berechnungen nutzt, stammen vom 14. Februar 2025.
Laut Election.de verliert die CDU dadurch 14 Direktmandate, bei der AfD sind es 7.
Der Grund: Es gibt keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr, das Zweitstimmen-Ergebnis muss eins zu eins im Parlament abgebildet werden. Kandidaten, die Direktmandate gewonnen haben, die nicht durch einen entsprechenden Zweit-Stimmen-Anteil im Bundesland gedeckt sind, konkurrieren mit Parteikollegen um den Einzug ins Parlament. Wer das Direktmandat mit den geringsten Prozenten im Bundesland ergattert hat, geht leer aus. Folglich gibt es einige Wahlkreise, aus denen niemand über ein Direktmandat in den Bundestag einzieht.
Ein solches Szenario droht beispielsweise in Flensburg-Schleswig, dem Wahlkreis von Robert Habeck: Hier liegt CDU-Kandidatin Petra Nicolaisen leicht vor dem Noch-Wirtschaftsminister. Das Portal Zweitstimme.org, das seine Vorhersagen auf eine Modellrechnung stützt, die vor allem Informationen aus Umfragen auf Bundesebene ableiten, sieht Nicolaisen leicht vorne. Laut den Prognoseportalen könnte die CDU-Kandidatin den Einzug ins Parlament allerdings trotzdem verpassen, da sie derzeit das schwächste Erststimmen-Ergebnis aller CDU-Kandidaten im Bundesland Schleswig-Holstein hat. Dass Habeck auch ohne Direktmandat in den Bundestag einzieht, ist mehr als wahrscheinlich, da er auf Listenplatz zwei über die Zweitstimmen gewählt werden wird.
Ein ähnliches Szenario droht in Heilbronn. Dort wird CDU-Kandidat Alexander Throm mit ziemlicher Sicherheit das Direktmandat gewinnen, wie bereits 2021. Doch auch er wird es wohl aufgrund des neuen Wahlrechts und des damit verbundenen Wegfalls von Direktmandaten, die nicht durch Zweitstimmen-Anteile gedeckt sind, wohl nicht in den Bundestag schaffen.
Auch im Wahlkreis Lübeck wird es ein knappes Rennen geben, bei dem ein Sieger aufgrund der Wahlrechtsreform zum Verlierer werden könnte. Wahlforscher sehen einen Sieg des SPD-Kandidaten Tim Küstendorf mit 25 Prozent der Erststimmen. Sein Gegenkandidat von der CDU, Christopher Lötsch steht mit 24 Prozent nur knapp dahinter. Allerdings: Selbst wenn Lötsch es noch schaffen sollte, das Direktmandat zu ergattern, würde er nicht in den Bundestag einziehen. Denn CDU wird in Schleswig-Holstein etwa 30 Prozent einfahren, was 8 Mandaten entspricht. Wenn nun aber – und danach sieht es aktuell aus – 9 Direktmandate gewonnen werden, muss der mit den wenigsten Stimmen verzichten. Bleibt alles so wie in den aktuellen Umfragen, würde Lötsch damit leer ausgehen, da er leidiglich auf einem hinteren Listenplatz steht.
Auch der AfD-Abgeordnete Leif-Erik Holm wird seinen dritten Einzug in den Bundestag aufgrund der Wahlrechts-Reform wohl verpassen – obwohl er in seinem Wahlkreis Schwerin/Westmecklenburg ziemlich sicher ein Direktmandat holen wird. Denn: Weitere vier von sechs Wahlkreisen in Mecklenburg-Vorpommern werden wohl an die AfD gehen, die allerdings nur etwa 31 Prozent der Zweitstimmen holt und damit 4 Mandate voraussichtlich erhalten wird. Da Holm – so zumindest sieht es aktuell aus – die wenigsten Prozente aller erfolgreichen AfD-Direktkandidaten einfährt, geht er wohl leer aus.
Leif-Erik Holm gehörte zwei Legislaturperioden lang dem Bundestag an. Diesmal könnte es allerdings knapp werden.
AfD-Europapolitiker Maximilian Krah hat hingegen gute Chancen auf ein Direktmandat. In seinem Wahlkreis Chemnitzer Umland sehen ihn Prognosen mit 40 Prozent vorn – auf dem zweiten Platz kommt die CDU mit 26 Prozent, alle anderen Parteien liegen unter zehn Prozent.
Auch im Westen will die AfD bei dieser Wahl erstmals Direktmandate gewinnen. Beispielsweise in Gelsenkirchen, Duisburg, Kaiserslautern oder Pforzeheim rechnet sich die blaue Partei Chancen aus. In Kaiserslautern tritt Sebastian Münzenmaier gegen Matthias Mieves (SPD) an, der nach Prognosen allerdings leicht führt.
In Pforzheim tritt die 26 Jahre alte Betriebswirtin Diana Zimmer für die Blauen an. Sie gilt als gefährlichste Konkurrentin des aktuell in Prognosen leicht vorne liegenden CDU-Kandidaten Gunther Kirchbaum. Sollte Kirchbaum gewinnen, droht ihm das gleiche Schicksal wie vielen seiner Parteikollegen: Er wird es aufgrund der Wahlrechtsreform nicht ins Parlament schaffen.
Auch einige prominente Duelle finden sich im Kampf um die Direkt-Mandate. So sichert sich Linken-Parteichefin Ines Schwerdtner laut aktuellen Prognosen (aus bundesweiten Hochrechnungen) das Direktmandat in Berlin-Lichtenberg – vor der AfD-Politikerin Beatrix von Storch. Die hatte zuvor angekündigt: „Ich biete Lichtenberg die finale Beerdigung der SED an.“
Vorhergesagte Erststimmenanteile und Gewinnwahrscheinlichkeiten auf Zweitstimme.org. Die Vorhersagen basieren auf einer Modellrechnung, die vor allem Informationen aus Umfragen auf Bundesebene nutzen. Es handelt sich nicht um eigene Umfragen im Wahlkreis.
Im Wahlkreis Köln III trifft der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich auf seine grüne Amtskollegin Katharina Dröge. Nach aktuellsten Prognosen geht Dröge als Siegerin aus dem Fraktionschef-Battle hervor. Mit Listenplatz 1 dürfte es Mützenich aber trotzdem ins Parlament schaffen.
Vorhergesagte Erststimmenanteile und Gewinnwahrscheinlichkeiten auf Zweitstimme.org. Die Vorhersagen basieren auf einer Modellrechnung, die vor allem Informationen aus Umfragen auf Bundesebene nutzen. Es handelt sich nicht um eigene Umfragen im Wahlkreis.
In Potsdam holt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wohl ziemlich sicher das Direktmandat. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock landet hingegen knapp auf Platz 3 hinter dem AfD-Kandidaten Alexander Tassis und hat damit kaum eine Chance, direkt in den Bundestag einzuziehen. Stattdessen wird sie aber über Listenplatz eins weiter Abgeordnete des Bundestages bleiben.
Vorhergesagte Erststimmenanteile und Gewinnwahrscheinlichkeiten auf Zweitstimme.org. Die Vorhersagen basieren auf einer Modellrechnung, die vor allem Informationen aus Umfragen auf Bundesebene nutzen. Es handelt sich nicht um eigene Umfragen im Wahlkreis.
Spannend wird es auch in Berlin–Pankow. Hier träumt die AfD nach der Gelbhaar-Affäre davon, den Grünen den Wahlkreis entreißen zu können. Und das könnte klappen.
Noch 2021 gewann der Grüne Stefan Gelbhaar den Wahlkreis mit 26,8 Prozent deutlich. Doch der Skandal um angebliche sexuelle Belästigung verschiedener Frauen – der sich in weiten Teilen als Kampagne gegen ihn entpuppte – brachte den 48-Jährigen dazu, seine Kandidatur fallenzulassen. Nun tritt Julia Schneider an seiner Stelle an. Prognosen des Meinungsforschungsinstituts YouGov sehen den AfD-Kandidaten Roland Gläser allerdings deutlich vorne. Er käme demnach auf 23 Prozent, erst dahinter folgen mit jeweils 19 Prozent Schneider für die Grünen und Alexandra Wend für die SPD.
Der Grüne Stefan Gelbhaar wird nicht erneut versuchen, in den Bundestag einzuziehen.
Für Bodo Ramelow könnte es in Erfurt sehr knapp werden: Laut YouGov führt der Linke in seinem umkämpften Wahlkreis nur hauchdünn vor dem AfD-Kandidaten Alexander Claus die Prognosen von Zweitstimme.org sehen Claus sogar vorne.
Und das, obwohl die Linke ihren Einzug in den Bundestag – wie schon bei der vergangenen Wahl – durch Direktmandate sichern will. Hierfür hatte die Partei die „Mission Silberlocke“ ausgerufen: Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch sollten jeweils einen Wahlkreis gewinnen. Da das Bundesverfassungsgericht im Juli 2024 eine Abschaffung der Grundmandatsklausel kassiert hat (die im Zuge der Wahlrechtsreform abgeschafft werden sollte), können Parteien, die drei Direktmandate erhalten haben, weiterhin in den Bundestag einziehen – auch wenn das Zweitstimmenergebnis unter 5 Prozent liegt.
Auch Dietmar Bartsch könnte allerdings scheitern. Er steht in seinem Wahlkreis in Rostock lediglich bei 12 Prozent der Stimmen, die AfD-Kandidatin bei 25 Prozent. Gregor Gysi hingegen wird seinen Wahlkreis Berlin – Treptow-Köpenick relativ lässig (aktuell steht er bei 35 Prozent) vor Michael Gleichmann (AfD, 17 Prozent) gewinnen.
Die „Silberlocken“ beim Wahlkampf: Gregor Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow bei einer Balkonrede an ihre Anhänger im Februar.
Lichtblick für die Linken: Laut aktuellen Prognosen sieht es so aus, als könnte die Partei relativ problemlos über die Zweitstimmen einziehen, sie erhält in sämtlichen aktuellen Umfragen um die 8 Prozent der Stimmen.
Das wiederum nimmt Druck von Sören Pellmann, der im Wahlkreis Leipzig II um eines der vier deutschlandweit möglichen Linken-Direktmandate kämpft und sich vor einiger Zeit als „Lebensversicherung“ für seine Partei bezeichnete. Laut den Prognosen sind ihm gleich mehrere Konkurrenten dicht auf den Fersen: Paula Piechotta für die Grünen, Christoph Neumann für die AfD und Dietmar Link für die CDU. Sollte der AfD-Kandidat Neumann siegen, könnte es aufgrund der Wahlreforms-Problematik trotzdem nicht für den Bundestag reichen.
In ganz Sachsen werden Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD erwartet. Im Wahlkreis Dresden II/Bautzen II setzte sich der CDU-Bewerber Lars Rohwer mit 35 Stimmen Vorsprung gegen seinen AfD-Kontrahenten Andreas Harlaß durch. Die AfD will nun Revanche und schickt Matthias Rentzsch ins Rennen, der sich gegen den erneut antretenden Rohwer durchsetzen soll.
Bitter sind die Aussichten für die SPD: Die Sozialdemokraten könnten 86 Wahlkreise in Ost- und Westdeutschland im Vergleich zur Wahl 2021 verlieren. Lediglich 35 der damals gewonnenen 121 Wahlkreisen könnten im schlimmsten Fall übrig bleiben.
„Drei Direktmandate für die FREIEN WÄHLER sind sehr wahrscheinlich“, twitterte Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger am Dienstag begeistert, und weiter: „Wenn wir die 3 bekommen, sind ca 20 FREIE WÄHLER drin UND NATÜRLICH GEHE ICH DANN NACH BERLIN!“
Aiwangers Hoffnung: Da die Freien Wähler die bundesweite Fünf-Prozent-Hürde nicht knacken werden, hofft er, über drei Direktmandate trotzdem in den Bundestag einziehen zu können. Wie viele Abgeordnete dann tatsächlich ins Parlament einziehen, regelt nämlich das Zweitstimmen-Ergebnis.
Aiwanger glaubt: In Landshut, Oberallgäu, Augsburg und Rottal-Inn (seinem eigenen Wahlkreis) holen die Freien Wähler Direktmandate. Nach NIUS-Informationen hat der Freie-Wähler-Chef dafür eigens Umfragen in Auftrag gegeben, die diese Einschätzung befeuern.
Allerdings: Keine der aktuell veröffentlichten Prognosen diverser Umfrage-Institute sieht auch nur einen einzigen Landkreis in Händen der Aiwanger-Partei. Ein Einzug der Freien Wähler in den Bundestag ist damit wohl eher nicht „sehr wahrscheinlich“.
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