
Am Donnerstagnachmittag berichtete der stellvertretende Welt-Chefredakteur Robin Alexander, dass Bundeskanzler Friedrich Merz die „nationale Notlage“ bei der Migration ausruft. Zwecks dessen würden im Moment die Botschafter der Nachbarländer informiert, hieß es. Alexander gilt als gut informiert, Merz hatte den Schritt im Wahlkampf angekündigt. So weit, so gut, so erwartbar.
Doch etwas ist faul an der Sache. Das merkt man schon, als einzelne Unionspolitiker schnell ihre Jubel-Posts auf X plötzlich löschen und neu anpassen. Alexander Hoffmann, CSU-Landesgruppenchef, schrieb zunächst: „Wir halten unsere Versprechen aus dem Wahlkampf und machen Ernst mit der Migrationswende. Wir entscheiden, wer in unser Land kommt und beenden illegale Einwanderung!“ Der Post war versehen mit dem Hashtag „Notlage“. Und Daniela Ludwig, Staatssekretärin im Innenministerium, lässt sich ähnlich ein.
Beide Posts verschwinden – Ludwig löscht ihren ganz, Hoffmann teilt seinen Beitrag später erneut ohne den Hashtag „Notlage“. Alles klingt danach, als wären die beiden zurückgepfiffen worden. Aus Unionskreisen hörte man zu dieser Stunde bereits: Da stimmt etwas nicht.
Der Stern berichtet bereits unter Berufung auf Regierungskreise, es werde doch keine Notlage ausgerufen. Und kurz vor 18 Uhr kommt ein Dementi: Regierungssprecher Stephan Kornelius teilt Bild mit, es gäbe keine Bestrebungen, eine Notlage in Kraft zu setzen. Welt-Journalist Alexander aber bleibt selbstbewusst bei seiner Darstellung. Das Chaos ist perfekt – und nicht mal die Mitglieder der Bundesregierung scheinen untereinander zu wissen, was jetzt wirklich los ist.
Schon Dobrindts Asyl-Ankündigung vom Mittwoch kollidierte mit Friedrich Merz‘ Antrittsbesuch in Polen: Während der Innenminister Zurückweisungen ankündigte, erhielt Merz eine Standpauke von seinem polnischen Kollegen Tusk und flötete plötzlich von „europäischen Lösungen“ bei der Migration. Und dann das Drama vom Donnerstag. Was macht diese Regierung?
Fakt ist: De facto hat Innenminister Alexander Dobrindt eine Notlage ausgerufen. Offenbar will der Bundeskanzler nur nicht so nennen – aus Angst vor der SPD. Dobrindt selbst machte am Abend bei Maybrit Illner klar: Um das schärfere Grenzregime umsetzen zu können, sei „Paragraph 18, der einschlägige im Asylgesetz, den wir nutzen im Zusammenhang mit bilateralen Verträgen und auch in Verbindung mit Artikel 72.“ Der Artikel des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist derjenige, auf dessen Basis man europäisches Recht außer Kraft setzen und so Zurückweisungen ermöglichen kann – die Notlage, die die SPD für rechtswidrig erachtet und nicht umgesetzt sehen will. So hatte Dobrindt es auch am Mittwoch argumentiert.
Merz versucht derweil, seinen Innenminister zumindest in der Außenwirkung einzufangen – anders ist das Dementi des Regierungssprechers nicht zu verstehen. Wie Bild berichtet, kursieren unter den Abgeordneten der Union verschiedene Theorien: Die SPD könnte Merz zurückgepfiffen haben, heißt es. Er müsse die Sozialdemokraten ruhig halten und habe den Bericht über die Notlage deshalb abstreiten lassen. Schlecht für ihn, dass sein Innenminister noch am Abend klarmacht, dass es scheinbar doch genau diese Notlage gibt.
Was gilt denn jetzt? Das scheint noch immer nicht restlos klar – glaubt man Dobrindt, gilt die Notlage trotz Dementi des Regierungssprechers. Die Kommunikation der Regierung ist jedenfalls ein waschechtes Desaster. Weiß dort die eine Hand, was die andere tut? In Berlin schüttelt man den Kopf. Klarheit und Führung zumindest sehen anders aus.