Oasis in Manchester: Es gibt noch Hoffnung für das alte Europa

vor etwa 4 Stunden

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Adidas-Sneaker und Fischerhüte so weit das Auge reicht, friedliche Feierstimmung und ganz viel britisches Lebensgefühl. Die Wiedervereinigung der Gallagher-Brüder in ihrer Heimatstadt Manchester ist nicht nur Kitt für die englische Seele, sondern auch der Beweis, dass es das alte, sorgenlose Europa doch noch gibt.

Dabei wurde es hier in Manchester 2017 eigentlich schon begraben. Als während des Konzertes der amerikanischen Sängerin Ariana Grande in der Manchester-Arena 22 Menschen durch die Bombe der beiden Islamisten-Brüder Salman und Hashem Abedi getötet wurden, stand das Land still. Doch nicht nur auf der Insel ist die Bestürzung groß. In Europa verbreitet sich nach Jahren der schweren Anschläge die Erkenntnis, dass unser kulturelles Miteinander in Zukunft vor allem durch Vorsicht statt Vorfreude geprägt sein könnte.

Als Grande zwei Wochen später zum Benefizkonzert lädt, um für die Opfer und Hinterbliebenen zu sammeln, steht auch ein besonderer Gast auf der Bühne: Liam Gallagher. Als Eigengewächs der Stadt lässt er es sich nicht nehmen, seinen persönlichen Lieblingssong und Oasis-Hit „Live Forever“ zu performen. Ein Lied, das zum Träumen ermuntert und das Leben bejaht.

Auf dem weitläufigen Konzertgelände gibt es kaum Sicherheitskräfte

„You and I are gonna live“ ist die zentrale Zeile des Songs. Genau so, wie auch das lyrische Ich im Song sich nicht aufgeben will, sondern sich und seiner Umgebung Bedeutung verleihen möchte, sendete Gallagher damals das unterbewusste Versprechen: Es gibt noch Hoffnung für Europa.

„Where are you from“, gehört zu den häufigsten Sätzen, die Konzertbesuchern am Freitag benutzten. Schon die Wartezeit auf den lange ersehnten Einlass um 15:00 Uhr wird zum kulturellen Austausch genutzt. Das Publikum ist bereits Stunden zuvor am Ort des Geschehens und ist dabei so international wie friedlich gesinnt: In der brütenden Hitze der Warteschlange verteilen drei Argentinier ihr übrig gebliebenes Crushed-Eis, ein Russe kommt mit zwei Australiern und einem Deutschen ins Gespräch, nachdem er diesem kurz sein Feuerzeug ausborgt. Auch die Bilderbuch-Briten sind vor Ort – samt krebsroter Haut, Bierbauch und Radlerbrille.

Heizte dem Publikum ordentlich ein: Liam Gallagher

Obwohl Bier und Cider schon am frühen Tag in Strömen fließt und auch der eine oder andere Drogenkonsument, ist die Stimmung friedlich – und bleibt es auch. Kein Gedränge am Eingang, keine Männergruppen, die sich als Platzhirsche aufrüsten möchten. Die Umgebung nach möglichen Messertätern zu scannen, ist ebenfalls nicht nötig, die üblichen Problemgruppen bleiben dem Event fern. Selbst die Anzahl der Polizisten ist für ein derartiges Großereignis relativ gering. Auf der gesamten Parkfläche muss man ebenso sehr genau nach Sicherheitskräften suchen. Hier wird ersichtlich, wie frühere Großveranstaltungen wie die Love Parade über Jahre ohne große Zwischenfälle durchgeführt werden konnten: das Klientel macht die Stimmung. Allein am ersten Konzerttag strömten über 80.000 Zuschauer in den Heaton Park im Nordwesten Manchesters.

Was ihnen dort geboten wurde, war eine Zeitreise in vergangene Jahrzehnte. Die Setlist eine Aneinanderreihung von Hits: „Hello“, „Acquiesce“, „Morning Glory“ und „Some Might Say“, um nur die ersten vier zu nennen. Zweieinhalb Stunden lang verdeutlichen Noel und sein Bruder Liam, warum sich die mindestens 220 Euro für das Ticket tatsächlich gelohnt haben.

Wiedervereint: Die beiden Gallagher-Brüder im Heaton Park

Alte Schwächen, etwa Liams stimmliche Tiefpunkte, wurden ausgemerzt. Die selbsternannte „beste Band der Welt“ hatte sich ihren Namen an diesem Abend redlich verdient. Auch, weil an diesem Abend alte Gräben überwunden wurde. Ein junger Engländer freut sich, dass Oasis die gespaltene britische Gesellschaft wieder ein bisschen mehr zusammenrücken lasse. Egal, welcher politischen Couleur: Auf die Britpop-Legenden kann sich am Ende jeder einschwören, sagt er.

Im Rauch der Pyrotechnik feiern die Fans die Rückkehr ihrer Lieblinge

Und auch die verschiedenen Altersklassen scheint das Bruderpaar zu vereinen. Viele Väter, die Oasis schon vor ihrer Trennung erleben konnten, besuchen das Konzert zusammen mit ihren Söhnen – über Landesgrenzen hinaus. Ein Israeli, selbst langjähriger Fan der Band, erzählt, dass er die Gelegenheit nutzte, um seinem 20-jährigen Sohn die Band näher zu bringen. Bei „Fade Away“ liegen sich die beiden bereits in den Armen, die Idee scheint geglückt.

Das Energie-Level schraubte sich bereits während des Intro-Songs „Fuckin in the bushes“ in maximale Höhen und nahm danach nie wieder ab. Einzig ruhigere Songs wie „Stand By Me“ oder „Cast No Shadow“ ließen dem Publikum einen kurzen Moment zum Durchatmen. Schaute man zwischendurch in die Gesichter der Zuschauer, zeigte sich bei vielen ein Anflug von Ungläubigkeit über das Geschehen. Viele scheinen auch kurz vor der Zugabe noch nicht wirklich realisieren zu können, dass sie gerade den vereinigten Gallagher-Brüdern beim gemeinsamen Musizieren zuschauen. Die Gesichtsausdrücke sagen: Kann mich jemand kneifen?

Das Ende des Konzertes wurde für die Besucher zur „Champagne Supernova“

Für die Zugabe bündeln sich dann aber doch noch einmal die stimmlichen Kräfte: „The Masterplan“, „Don't Look Back In Anger“ und selbstverständlich „Wonderwall“. Zum krönenden Abschluss verabschiedete sich die Band mit einem Feuerwerk zu Champagne Supernova in den wohlverdienten Feierabend. Zumindest vorerst: In den nächsten Tagen werden 320.000 Besucher für vier weitere Konzerte erwartet. Dass sich dabei der Geist des alten, freieren Europa weiterverbreiten wird, ist sicher.

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