
„Die Wissenschaft“ hat gesprochen. Rund 300 Akademiker, überwiegend Rechtswissenschaftler, beklagen den Umgang mit Brosius-Gersdorf, nachdem deren Positionen für massive Kritik und – vorerst – zum Scheitern ihrer Kandidatur zum Amt der Bundesverfassungsrichterin geführt haben. Eindrucksvoll tritt sie einem entgegen, die Phalanx aus Doktoren und Professoren an honorigen Institutionen, die mit ihrer kurzen Solidaritätsadresse eine Menge über ihre Demokratieauffassung preisgeben.
Natürlich geht der Große Rat der 300 auf keinen inhaltlichen Kritikpunkt an den Positionen von Brosius-Gersdorf ein. Warum aber sollte man eine Verfassungsrechtlerin, die davon spricht, AfD-Wähler zu „beseitigen“, nicht mit empörten Worten kritisieren? Warum sollte man sich nicht entsetzt zeigen, wenn eine Staatsrechtlerin für das straflose Töten von Kindern im Mutterleib eintritt und damit noch dazu einen seit 1993 bestehenden Rechtsfrieden in der Bundesrepublik Deutschland brechen möchte? Warum sollte man mit mitunter auch polemischen, aber gleichwohl begründeten Worten sparen, wenn Brosius-Gersdorf sich dafür stark macht, Personen, die auf ihre körperliche Integrität bestehen und eine experimentelle Impfung verweigern, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu streichen?
Warum sollte nicht auch der juristische Laie erschrecken dürfen, wenn Brosius-Gersdorf die Logik der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat schlicht umdreht und den Bürger einer Rechtfertigungspflicht unterwerfen möchte, wenn er sich nicht impfen lassen möchte, anstatt Eingriffe des Staates in die körperliche Unversehrtheit noch länger dem Bürger gegenüber legitimieren zu müssen? „Darstellungen aber“, so weiß der Große Rat der 300, „die diese Positionen als von vornherein abseitig oder radikal einordnen, sind jedenfalls durch Unkenntnis der rechtswissenschaftlichen Diskussion geprägt.“
Subtext: Wer seine Präferenzen als Staatsbürger artikuliert, hat sich dabei gefälligst am Stand der rechtswissenschaftlichen Debatte zu orientieren. Es vermag nicht zu überraschen, dass der Elitismus, den viele Bürger wohl in der Wahl von Brosius-Gersdorf spüren, auch in der ihr zugedachten Solidaritätsadresse zum Ausdruck kommt.
Dieser so schrecklich unakademische Umgang mit Brosius-Gersdorf soll nun, so weiß es der Große Rat der 300, geeignet sein, „die Kandidatin, die beteiligten Institutionen und mittelfristig über den Verfall der angemessenen Umgangskultur die gesamte demokratische Ordnung zu beschädigen“.
Was aber ist, nüchtern betrachtet, passiert? Die SPD politisierte mit gleich zwei Nominierungen – Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Kathrin Kaufhold – das Bundesverfassungsgericht. Ann-Kathrin Kaufhold rückte schnell aus der Schusslinie, weil die breite Öffentlichkeit – und die CDU/CSU sowieso – an eine normale links-grüne Verzerrung des politischen Diskurses ohnehin schon so gewöhnt ist, dass man es gar nicht mehr bemerkt, wie grotesk sich das politische Koordinatensystem in den letzten Jahren in Richtung „links = Mitte“ verschoben hat. Dass die SPD mit ihrer Nominierung von Brosius-Gersdorf auch diesen bereits weit gedehnten Bogen überspannt, damit hat sie offenbar nicht gerechnet. Deswegen beklagt der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch nun einen „rechten Mob“, dem man sich als aufrechter Demokrat nicht beugen dürfe.
Brosius-Gersdorf ist ihrerseits eine Kandidatin, die sich wiederholt prononciert politisch geäußert hat. Und ja, natürlich hat sie sich in einer Weise geäußert, die man als „ultra…“ oder „…radikal“ bezeichnen kann, auch wenn sie selbst das in einer Stellungnahme vom 15. Juli als „diffamierend und realitätsfern“ ansehen möchte. Was sollte denn noch mehr „ultra“ oder „radikaler“ sein, als den Allerschwächsten die Menschenwürde aberkennen zu wollen, um damit rechtfertigen zu können, dass man in den ersten drei Monaten straflos ihre Tötung in dem einzigen Schutzraum, den sie haben, vornehmen kann? Natürlich ist das „ultra“ und „radikal“, was denn sonst?
Freiheitlich-demokratische Grundordnung bedeutet – das weiß die ausgewiesene Staatsrechtlerin freilich –, dass man auch radikale und sogar extreme Sachen sagen darf. Das Recht auf freie Meinungsäußerung macht ihr freilich auch niemand streitig. Aber dass zu solchen extremen Positionen dann massiver Widerspruch einsetzen kann von Personen, die das anders sehen, das ist ebenso Ausdruck von freier Meinungsäußerung und kein stillzustellender Defekt, sondern konstituierend für die liberal-demokratische Grundordnung.
Fest steht: Wenn jeder, der Brosius-Gersdorfs gewiss allesamt in eine politische Richtung laufende Positionen kritisiert, als „rechte Hetze“, „AfD“ oder „rechtspopulistisch“ bezeichnet wird, dann wird man Brosius-Gersdorf gewiss auch als „linksradikal“ bezeichnen können. Und in dieser weithin unerkannten Eskalationsdynamik, die die SPD nun ebenfalls durch ihre bornierte Richterwahl befeuert, während sie absurderweise glaubt, damit zu einer Befriedung der hoch angespannten politischen Lage in unserem Land beizutragen, beklagen nun auch ihre Fürsprecher aus der Rechtswissenschaft, dass Brosius-Gersdorfs politische Aussagen Gegenstand genau jener pluralen Debatte sind, die das höchste deutsche Gericht, an das sie sich wählen lassen möchte, seit über 70 Jahren als den ureigensten Ausdruck der liberalen Demokratie ansieht.
Große Sorgen muss es einem deshalb bereiten, dass der Große Rat der 300 nicht nur eine bessere Debattenkultur anmahnt, sondern mit einem „Verfall der angemessenen Umgangskultur“ zugleich perspektivisch „die gesamte demokratische Ordnung“ beschädigt sieht. Wer allen Ernstes glaubt, dass der Stil mancher Kritik an Brosius-Gersdorf die demokratische Ordnung bedroht, betreibt genau das, was links-progressive Kreise den Bürgern seit Jahren einzuhämmern versuchen: Wer nicht so redet, wie es bei uns üblich ist, ist ein Anti-Demokrat. Wer allerdings glaubt, die demokratische Ordnung schließe ein Bekenntnis zu bestimmten Umgangsformen ein oder gebiete Zurückhaltung, wenn Akademiker den Bauchladen ihrer politischen Positionen hinter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft ausbreiten, beschädigt selbst die liberale Demokratie. Vor Straftaten allerdings muss, auch das versteht sich, jeder in gleicher Weise wirksam geschützt werden, um sodann einen möglichst breiten, kontrastreichen und inklusiven demokratischen Diskurs zu organisieren. Morddrohungen gegen Brosius-Gersdorf, von denen berichtet wurde, müssen freilich mit den Mitteln des repressiven Staates verfolgt und geahndet werden.
Der entlarvendste Satz in dem Schreiben: „Im Richterwahlausschuss eine Kandidatin zunächst zu bestätigen, um dann gegenüber ideologisierten Lobbygruppen und mit Unwahrheiten und Diffamierungen gespickten Kampagnen zurückzurudern, zeugt zumindest von fehlendem politischem Rückgrat und mangelnder interner Vorbereitung.“ Was der Fall Brosius-Gersdorf in der Tat zeigt, ist ein tief liegender Defekt der bestehenden institutionellen politischen Praxis, nämlich möglichst viel vorab in Hinterzimmern auszukarteln und dann jede noch so weitreichende politische Entscheidung am Stimmvieh vorbei einfach so alternativlos wie das Wetter zu präsentieren.
Das allerdings ist undemokratisch und in einer Gesellschaft, in der man eben nicht die Feinheiten irgendwelcher akademischen Debatten kennen muss, um auch mal hemdsärmelig (aber wohl in vielen Fällen mit einem größeren gesunden Menschenverstand als an vielen universitären Fakultäten) über eine Sache zu streiten, die eben in öffentlichem Interesse liegt und in der jeder Bürger genau eine Stimme hat, völlig unzeitgemäß. Ebenso wie die links-grünen Parteien, die „unsere Demokratie“ schützen, ebenso wie viele Mainstream-Medien, zeigen sich die Juristen pikiert über das, was der Normalzustand sein sollte: dass es eine lebendige politische Debatte vor einer Entscheidung gibt.
Höchst aufschlussreich ist die Formulierung, dass „ideologisierte Lobbygruppen“ die Politik zum Einlenken bewegt hätten. Auch das wiederum indiziert, aus der Feder von Juristen, ein seltsames Demokratieverständnis. Denn es bedeutet: Die Rechtswissenschaftler setzen den Horizont ihrer eigenen politischen Privatmeinung als Nulllinie des Diskurses und die Abweichung davon soll dann eine „Ideologie“ sein. Brosius-Gersdorf vertritt einfach das völlig Normale, das Gute, das Richtige – und wer die Sache gänzlich anders sieht, ist ein unverbesserlicher „Ideologe“.
In einer funktionierenden Demokratie streiten allerdings stets unterschiedliche Ideologien (im Sinne von: Weltanschauungen) als gleichrangige miteinander und das ist gerade Ausdruck der liberalen Demokratie, wie sie das Bundesverfassungsgericht unter anderem in seiner Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit (Lüth 1958 bis Reichelt 2004) und Parteiverboten (SRP 1952, KPD 1956, NPD 2002, 2017) dargelegt hat.
Hinter den Äußerungen von Brosius-Gersdorf tritt selbstverständlich eine bestimmte Weltanschauung hervor – ebenso wie hinter den Äußerungen jener, die ihr mitunter vehement widersprechen. Da Brosius-Gersdorf diese partikulare Weltanschauung wie eine Monstranz vor sich herträgt und ihre politischen Opponenten richtigerweise bemerken, dass sie hier eine politische Opponentin vor sich haben, eignet sie sich nicht zum Amt des Verfassungsrichters – unabhängig davon, was sie nun genau mit so viel Verve vertritt. Man stelle sich einmal vor, was los wäre, wenn ein zukünftiger Verfassungsrichter öffentlich ein vollständiges Verbot von Kindstötung im Mutterleib, ein Verbot der Linkspartei und einen vollständigen Migrationsstopp gefordert hätte.
Harte, auch polemische Kritik beschädigt nicht die Demokratie, sondern ist eine ihrer völlig legitimen Ausdrucksformen – insbesondere dann, wenn es um die Frage geht, wer große Macht über andere bekommt und sie eventuell sogar höchst folgenreich missbrauchen könnte, um politische Gegner zu „beseitigen“. Von der Stammtischsprache im „Alten Wirt“ bis hin zum gepflegt-gehemmten Highbrow-Diskurs in mondänen universitären Exzellenz-Programmen reicht der liberal-demokratische Wettbewerb aus Rede und Gegenrede. Wenn das auch weiterhin Staatsrechtler bedenken würden – von Mainstream-Medien und den ‚guten‘ politischen Parteien ganz zu schweigen –, dann klappt’s auch wieder besser mit der demokratischen Ordnung.
Am 4. September 2025 erscheint das neue Buch von Christian Zeller: Zerstörung der Meinungsfreiheit. Eine politische Zeitdiagnose. Münster: Solibro Verlag 1. Auflage 2025 [klarschiff Bd. 20] ISBN 978-3-96079-126-3, Broschur, 456 Seiten, 26 Euro (D).