
Als der Bundeskanzler an diesem Mittwoch den Bundestagsabgeordneten Rede und Antwort stand, lag Abschied ohne Wehmut in der Luft. Zum vermutlich letzten Mal nahm Olaf Scholz an einer solchen Befragung als Kanzler teil. Der Abstand seiner SPD auf die führende Union ist enorm, die Grünen sitzen ihm im Nacken.
Vor diesem Hintergrund zeigte das einstündige Spektakel noch einmal die unbestritten größte Stärke des Amtsinhabers, der, wie er nun sagte, sein eigener Nachfolger werden möchte: Olaf Scholz kann sich die Wirklichkeit auf eine beeindruckende Weise schönreden. Und wenn es doch einmal hakt, sind die anderen schuld.
Olaf Scholz muss im Bundestag Rede und Antwort stehen.
In seiner Erwiderung auf eine Frage des AfD-Abgeordneten Leif-Erik Holm verstieg Scholz sich zu einer aberwitzigen, kontrafaktischen Behauptung. Holm kritisierte die „verfehlte Wirtschaftspolitik“ und den „Transformationsirrsinn“ des Wirtschaftsministers Habeck, der eine „schwere Belastung für unser Land“ sei.
Scholz verniedlichte daraufhin die ökonomischen Probleme, die sich tatsächlich bis zum Himmel türmen. Es handele sich lediglich um „große Herausforderungen“, etwa in der Stahlindustrie. Dass diese wie keine zweite unter dem Beharren der Regierung auf grünen Energien leidet, verschwieg Scholz.
Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder im Roche Werk in Penzing. Der Pharmakonzern investiert angeblich 600 Millionen Euro in Deutschland.
Stattdessen schwadronierte er, dass sich die Balken bogen: Es gebe auch „im Bereich Pharma milliardenschwere Investitionen in Deutschland wegen der vielen Gesetze, die diese Regierung gemacht hat und die weltweit gelobt werden“. Das Gegenteil ist wahr. Statt weltweitem Lob für deutsche Gesetze gibt es ein globales Entsetzen über die Geschwindigkeit, mit der in Deutschland der Pfad der Deindustrialisierung beschritten wird.
Wenige Stunden vor Scholzens Märchenerzählung im Bundestag hatte die OECD ihre Wachstumsprognose nach unten korrigiert. Im kommenden Jahr soll Deutschland nur noch um 0,7 Prozent wachsen, schwächer als jedes andere Industrieland. „Politico“ aus den Vereinigten Staaten schrieb vom „industriellen Blutbad“ in Deutschland, der britische „Economist“ vom „wirtschaftlichen Schlaf“, in den die Bundesrepublik gefallen sei. Weltweites Lob gibt es nur in der Welt des Olaf Scholz.
In dieser Welt ist Erfolg eine Frage des richtigen Standpunkts – und der großzügigen Skalierung. Angesprochen auf seine Aussage, Deutschland stehe ein neues Wirtschaftswunder ins Haus, gab Scholz zweimal die identische ausweichende Antwort: „Um die Mitte dieses Jahrhunderts“ – also in zwanzig bis vierzig Jahren – werde Deutschland ein „klimaneutrales Industrieland“ sein.
Das Ziel ist unambitioniert und großspurig zugleich. Um ein Industrieland zu sein, reicht es vielleicht, ein Land mit ein klein wenig Industrie hier und da zu sein. Und selbst dieser Lackmustest kommt erst dann, wenn Olaf Scholz zwischen 86 und 106 Jahre alt sein wird. Die Prognose sei gewagt: Dann wird sich niemand mehr an Scholz erinnern können – oder niemand sich an den Abwracker im Kanzleramt erinnern wollen.
Scholz kündigte weitere Abschiebungen nach Afghanistan an. (Das Foto zeigt eine Abschiebung aus dem Jahr 2019)
Nach der gleichen Methode verfuhr Scholz bei seiner zweiten Großbaustelle, der Migrationspolitik. „Wir sind da ganz gut“, stellte er sich selbst ein tadelloses Zeugnis aus. Die „irreguläre Migration“ sei bereits „erheblich zurückgegangen“, der Ball liege bei den Bundesländern und den Herkunftsstaaten. Auch werde es wieder „Abschiebeflüge nach Afghanistan“ geben, so wie unmittelbar vor den ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst.
Kein Wort davon, dass mehr als 60 Prozent der Abschiebungen scheitern und dass über ein Drittel der Kommunen sich durch den hohen Aufwand für Migranten im „Krisenmodus“ sehen. Auch die erodierende innere Sicherheit bewog den Kanzler zu keiner Silbe.
In den Wahlkampf ziehen will Scholz als abwägender Freiheitsheld der Ukraine. Die Unterstützung soll fortgesetzt werden, aber ohne deutsche Marschflugkörper, ohne deutsche Soldaten. Es sei „ausgeschlossen, Soldaten in der gegenwärtigen Situation in die Ukraine zu schicken.“ Für ihn, Scholz, kämen „Bodentruppen in dieser Kriegssituation nicht in Betracht.“ Mit dieser außenpolitischen Losung allein wird es Scholz schwerfallen, den demoskopischen Rückstand aufzuholen. Die wirtschaftliche Verdüsterung bleibt trotz aller rhetorischen Abwehrgefechte an Scholz und seiner verbliebenen Minderheitsregierung hängen.
Wirklich neu an der üblichen Selbstbeweihräucherung aber war das fünffache verbale Stolpern des Kanzlers. Noch nie produzierte Scholz derart viele Versprecher in derart kurzer Zeit – sonst gelingen solche Häufungen nur der Außenministerin.
Scholz aber, nicht Baerbock, sprach von „Erlaufen“ statt „Erlauben“, von „straktekischen“ Zielen und von der „Entstellung unserer Positionen“, wo es um die Erstellung ging. Der Kanzler erklärte, Deutschland sei auf „Anwanderung eingewiesen“ statt auf Einwanderung angewiesen und machte den Import von Halbleitern sinnwidrig zu deren Export. Mal fahrig, mal hochfahrend: Hier sagte jemand Ade zu einem Amt, das ihm zu groß war und an das er sich dennoch klammert.
Die Äußerungen des Kanzlers waren mit vielen peinlichen Versprechern gespickt.
Ganz am Anfang hatte Scholz verkündet: „Die Zeit des Wahlkampfs ist nicht die Zeit des Stillstands.“ Man möge doch bitte seiner Minderheitsregierung noch den einen oder anderen Wunsch erfüllen, etwa die Verlängerung der Mietpreisbremse und die Erhöhung des Kindergeldes.
Wenige Stunden später entlarvte sich auch dieser Appell als leere Phrase: Gemeinsam mit der Union, den Grünen und der FDP nahm die SPD Anträge der AfD von der Tagesordnung. Über den Rückbau von Kernkraftwerken und die Zurückweisung von Asylmigranten an der Grenze dürfen die Bundestagsabgeordneten nun nicht abstimmen.
Insofern werden künftige Historiker vor einer spannenden Frage stehen: Hat unter Bundeskanzler Olaf Scholz die Wirtschaft in Deutschland mehr gelitten als die Demokratie? Oder war es umgekehrt?