
Die SPD steht vor einer Richtungsentscheidung: Zieht die Partei mit dem beliebtesten oder mit einem der unbeliebtesten Politiker in den Bundestagswahlkampf?
Erst am Dienstag bestätigte eine INSA-Umfrage für Bild, wie ramponiert der Ruf des Kanzlers ist: Er schafft es im Politiker-Ranking nur noch auf Platz 19 der insgesamt 20 beliebtesten Politiker. Schlechter schneidet nur AfD-Politiker Tino Chrupalla ab. Der größte Konkurrent des Kanzlers hingegen baut seinen Vorsprung aus: Pistorius legt auf der Skala um 2 Punkte zu und liegt damit 20 Punkte vor Scholz.
Die Situation könnte also eigentlich eindeutiger nicht sein: Alles spricht dafür, mit dem beliebteren Politiker um die Gunst der Wähler zu werben.
Pistorius ist derzeit Verteidigungsminister.
Doch noch ist es vergleichsweise still in der Partei. Die SPD-Bundestagsfraktion sprach sich am Dienstag für eine erneute Kanzlerkandidatur von Scholz aus. Fraktionschef Rolf Mützenich erklärte: „Olaf Scholz hat alles dafür getan, dass die Koalition zusammen bleibt! Wir haben den Menschen unter die Arme gegriffen – so soll es in Zukunft bleiben. Es geht um Erfahrung und Kompetenz. Da bin ich sicher, da ist Olaf Scholz der richtige Kandidat!“
Dass Scholz den Termin für die Vertrauensfrage auf den 16. Dezember schieben konnte, nutzt ihm kurzfristig: Denn bis dahin ist eine Auswechslung des Kanzlerkandidaten aus strategischen Gründen quasi unmöglich. Die SPD wird in den kommenden Wochen versuchen müssen, für geplante Gesetzesanträge Mehrheiten zusammenzukratzen. Scholz könnte vom Parlament vorgeführt werden. Spätestens am 16. Dezember wird er als Verlierer im Parlament dastehen, denn darauf ist die Vertrauensfrage angelegt: nachzuweisen, dass der Kanzler keine Mehrheit mehr hinter sich hat.
Diese Bilder des Scheiterns wird ein neuer Kandidat nicht mit der eigenen Person in Verbindung bringen wollen. In der zweiten Dezemberhälfte könnte also frühestens ein neuer Kandidat in Stellung gebracht werden. Endgültig festlegen muss sich die Partei zwar erst Ende Januar oder Anfang Februar, wenn der Nominierungsparteitag geplant ist. Da aber bereits am 23. Februar gewählt werden soll, wäre das neue Jahr als Zeitpunkt für die Einigung auf einen Kandidaten denkbar spät.
Die Vertrauensfrage findet gut eine Woche vor Weihnachten statt, dann folgt die Zeit zwischen den Jahren. Für Scholz werden dies die Wochen der Entscheidung sein: Bis dahin genießt er die Macht des Amtsträgers. Danach aber könnte die Loyalität der Abgeordneten endgültig erodieren, zumal, weil sie um den Erhalt ihrer Mandate fürchten.
Wahrscheinlich ist, dass in den kommenden Wochen immer mehr SPD-Leute beginnen, gegen Scholz zu lobbyieren, um ihn nach der Vertrauensabstimmung schnell loswerden zu können. Die Abstimmung selbst ist für die Partei kein ideales politisches Instrument, um Scholz zu schwächen: Denn sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach namentlich stattfinden, wie auch die Vertrauensfragen in der Vergangenheit. Abweichler in der eigenen Partei können also nicht im Schutze einer geheimen Wahl dem Kanzler das Vertrauen entziehen. Jeder, der gegen den Kanzler votieren möchte, muss mit seinem Namen dafür einstehen. Sollte Pistorius bis dahin nicht als heimlicher Favorit feststehen, könnten viele SPD-Abgeordnete fürchten, in einer neuen Legislatur für ihre Illoyalität abgestraft zu werden.
Die Grünen werden aller Voraussicht nach ebenfalls für Scholz votieren. „Ich gehe von Zustimmung aus“, erklärte die Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann am Dienstag. Die 117 grünen Abgeordneten würden zusammen mit den 207 Sozialdemokraten auf 324 Stimmen für den Kanzler kommen und damit unter der Mehrheit von 367 Sitzen bleiben.
In den kommenden Wochen wird sich vor allem die Frage stellen: Wer wagt sich als Erster vor, um an Scholz‘ Stuhl zu sägen? Traditionell kommen dafür die SPD-Landesfürsten infrage. Pistorius stammt aus dem wichtigen Landesverband Niedersachsen. Allerdings ist er dort nicht gut vernetzt. Auch Sachsen könnte infrage kommen: Dort waren Sondierungsgespräche zwischen CDU, SPD und dem BSW gescheitert. Nun erwägen CDU und SPD, eine Minderheitsregierung zu bilden. Sollte es dort in absehbarer Zeit zu Neuwahlen kommen, wäre Sachsens SPD-Spitze wohl erfreut über den Rückenwind eines Neuanfangs in Berlin.
Es könnte allerdings ausgerechnet Scholz‘ Heimatverband sein, der dem Kanzler in den Rücken fällt: In Hamburg wird am 2. März die Hamburger Bürgerschaft gewählt. Nur eine Woche vorher, am 23. Februar, soll die Bundestagswahl stattfinden. Ein desaströses Abschneiden des Hamburgers Scholz und seiner Partei wäre aus Sicht der hanseatischen SPD das denkbar schlechteste Signal so kurz vor der Bürgerschaftswahl.
Hamburgs Erster Bürgermeister im Rathaus.
Einen ersten Vorstoß unternahmen darum am Montag bereits die Hamburger Kommunalpolitiker Markus Schreiber und Tim Stoberock. Auf Instagram erklärten sie, Scholz habe es nicht geschafft, „die Menschen mitzunehmen und Führungsstärke zu kommunizieren“. Schreiber forderte in Bild: „Olaf Scholz hat jetzt eine große Aufgabe: Boris Pistorius nach vorn zu schieben, und selbst zu verzichten.“
Laut einer Forsa-Umfrage von Anfang November käme die SPD von Oberbürgermeister Peter Tschentscher auf 30, CDU und Grüne auf jeweils 21 Prozent. Unwahrscheinlich, dass Tschentscher sich das Wahlergebnis von einer miserabel abschneidenden SPD im Bund verhageln lässt.
Politikwissenschaftler Werner Patzelt hält einen Wechsel des Kandidaten für möglich: „Olaf Scholz hat es als Bundeskanzler nachweislich nicht geschafft, eine Koalition zusammenzuhalten. Er ist dem Amt nicht gewachsen, was auch die Ausfälligkeiten gegen FDP-Chef Christian Lindner in seiner Rede in der vergangenen Woche belegten.“
Wolle Pistorius kandidieren, dann dürfte es allerdings nicht so aussehen, als habe er Scholz gemeuchelt, sagt Patzelt gegenüber NIUS. „Aus der Warte von Pistorius könnte sich die Lage wie folgt darstellen: Wenn es wahrscheinlich ist, dass die Wahl ohnehin verloren geht, warum soll er zum Gesicht der Niederlage werden? Er könnte darum darauf setzen, dass der Kanzler die Verantwortung für sein Scheitern bis zum bitteren Ende tragen soll.“
Doch am Abend des 16. Dezember könnte die Lage schnell ganz anders aussehen: Ist der Kanzler erst einmal endgültig entmachtet, dann könnten die Rufe nach Pistorius lauter werden. In Umfragen dümpeln die Sozialdemokraten derzeit um 15 Prozent – die Union erreicht mehr als doppelt so viele Prozentpunkte. Die AfD liegt derzeit auf Platz zwei bei knapp zwanzig Prozent, die Grünen haben sich nach dem Ampel-Aus laut INSA um einen Prozentpunkt auf 11,5 Prozent verbessert.
Mit einem starken Robert Habeck könnte es den Grünen gelingen, an der SPD vorbeizuziehen. Die Kanzlerpartei läge dann auf Rang vier – kaum vorstellbar, dass sie das riskieren würde. Zumal sie die Chance hat, den beliebtesten Politiker des Landes als Alternative aus dem Hut zu zaubern.
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