
Viele Menschen vertreten mehr oder weniger unausgesprochen folgende Lebenseinstellung: „Was nach dem Tod kommt, deckt tiefe Finsternis. Was uns zu tun gebührt, des sind wir nur gewiss.“ (Immanuel Kant)
Dieser Glaube ist sich moralisch sicher, die alternativlose Wahrheit gepachtet zu haben:
Diese Liste von moralischen Gewissheiten könnte ellenlang erweitert werden.
Die Menschen scheinen körbeweise Früchte vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben: „An dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (1. Mose 3,5). Die Schlange im Paradies, die den Baum der sicheren moralischen Erkenntnis von Gut und Böse angepriesen hat, hat ganze Arbeit geleistet. „Was uns zu tun gebührt, des sind wir nur gewiss.“
Wenn es allerdings um das Woher und Wohin des Menschen geht, dann ist dieser Glaube schwindsüchtig, dunkel, leer und agnostisch (= nichts Genaues weiß man nicht). Ob unsere Existenz ein sinnloses Zufallsprodukt in einem chaotischen Zufallsuniversum ist oder ob unsere Existenz eingebettet ist in einer göttlichen Liebe und in einer göttliche Ordnung (= griech. „Kosmos“), zu dieser Frage können viele Menschen nur ein leeres Achselzucken beitragen. „Was nach dem Tod kommt, deckt tiefe Finsternis.“
Der Lebensstil vieler Menschen zeichnet sich also aus durch eine moralische Selbstsicherheit bei gleichzeitig existenzieller Unsicherheit. Moralische Riesen, existentielle Zwerge. Je mehr Ungewissheit der Mensch über sein Woher und Wohin hat, umso mehr sucht er feste Leitplanken in der Moralisierung der Gegenwart.
Das christlich österliche Lebensverständnis ist genau umgekehrt ausgerichtet: „Was uns zu tun gebührt, deckt tiefe Finsternis. Was nach dem Tode kommt, des sind wir nur gewiss.“
Der christliche Glaube gibt moralisch kaum Gewissheiten her. Vielmehr wird in fast allen ethischen Fragen ein weiter Raum geöffnet, innerhalb dessen die Christen um den individuellen richtigen moralischen Weg ringen und diskutieren müssen. Ein Beispiel: In den Zehn Geboten steht, dass man den Sabbat heiligen soll (2.Mose 20,8). Jesus mischt dieses Gebot liberal auf, indem er dieses Gebot den Bedürfnissen der Menschen unterordnet: „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat“ (Markus 2,27).
An die Stelle moralischer Sabbatgewissheiten treten mit Jesus fruchtbare Diskussionen, wie die heilsame Unterbrechung des Alltags am besten mit Menschendienlichkeit zusammengebracht werden können. Die Christen wagen es dann sogar, den Sabbattag durch den Sonntag als Tag der Auferstehung Jesu zu ersetzen.
Moral geht im christlichen Glauben nicht ohne das offene und suchende und wagende Abwägen und Argumentieren. Moral geht nicht ohne Debatte. Moralische und politische Alternativlosigkeiten sind unchristlich, selbst wenn Amtskirchen das Gegenteil behaupten.
Was allerdings das Woher und Wohin des Lebens betrifft, da leuchtet den Christen mit Ostern ein helles Licht entgegen. „Gelobt sei Gott, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu von den Toten“ (1. Petrus 1,3). Dieses irdische Leben ist nur das Vorspiel und läuft auf die Vollendung der Existenz jenseits von Raum und Zeit in Gottes Herzen zu.
Ich liebe den christlich-österlichen Lebensstil. Existentielle Gewissheit und Gelassenheit in und durch Jesus Christus. Aber Offenheit und Argumentationsfreude in allen moralischen und irdischen Dingen. Ostern – eine geniale Lebensgrundlage.
Vielleicht hatte auch Immanuel Kant davon eine Ahnung, wenn er schreibt: „Wenn ich manchmal des Abends an meinem Klavier sitze und einen Choral singe, so fühle ich eine Ruhe und Freude in mir, welche all mein Philosophieren mir nicht geben konnte.“
„Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn.“ (Römer 8,38-39)